CD Kritik Progressive Newsletter Nr.32 (10/2000)

Horizont - Summer in town
(38:00, Boheme, 1985)
Horizont - The portrait of a boy
(39:59, Boheme, 1989)

Im Osten viel Neues - auch wenn sich nur um Veröffentlichungen aus der Vergangenheit handelt. Boheme haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Archive von Melodiya, der ehemals einzigsten Plattenfirma der Sowjetunion, zu durchstöbern und die interessantesten Aufnahmen auf CD zu pressen. Beschäftigte sich das Label bisher hauptsächlich mit Jazz und sakraler Musik, so gibt es nach Gunesh jetzt endlich mehr aus der Progressive Rock / Fusion Schiene. Horizont machen mit ihren beiden einzig erhältlichen Alben den Anfang, weiter hinten folgen noch Kaseke. Leider hat das Label bisher noch keinen vernünftigen Vertrieb gefunden, so dass man die Alben nur direkt beim Label kaufen kann (www.bohememusic.com). Die russische Band, die sich auch als kammermusikalisches Ensemble in der Tradition von Univers Zero sieht, gibt sich auf ihrem ersten Longplayer längst nicht so abgedreht, wie dass die eigene Einschätzung vermuten lässt. "Summer in town" ist zu 2/3 feinster, klassisch inspirierter, höchst virtuoser, sehr melodischer Progressive Rock, der keinerlei Wünsche offen lässt. Da bis auf lautmalerische Stimmakrobatik keinerlei Gesang vorkommt, ist es ausschließlich den sehr guten Instrumentalisten vorbehalten, erstklassige Arbeit abzuliefern. Der Opener "Snowballs" der Band um den Keyboarder Sergey Kornikov klingt leicht, fröhlich, fast schon unbekümmert. Klassische Elemente, feines Zusammenspiel von Orgel, Gitarre und Flöte wecken Erinnerungen an die holländischen Trace (der Nachfolgeband von Ekseption), sowie den schwedischen Tribute. Titel zwei "Chaconne" beruft sich auf die ätherische Stimmung solcher Stücke wie "Awaken" von Yes oder dem Gitarrengezirpe eines Steve Hacketts. Das Stück steigert sich in nicht endenwollenden Synthesizer- und Gitarrenkaskaden, bevor Orgel und Steve Howe-mässige Gitarre für ein bombastisches Ende sorgen. Auf dem fast 19-minütigen Titelsong zeigt sich dann aber eine ganz andere Band. Breaks und zerfahrene Songstrukturen rücken das Stück Richtung R.I.O. und erschweren erheblich den Zugang zur Musik. Ein hypnotischer Zeuhl Schlussteil in Magma Tradition mit durchgeknallten Synthieattacken à la Emerson sorgt aber dennoch für ein versöhnliches Ende. Doch es kommt noch härter, auf dem Nachfolgewerk "The portrait of a boy" ist dann endgültig Schluss mit lustig. Viel deutlicher zeigt sich hier der R.I.O. Einfluss, der Wille zeitgenössische, neuartige Musik zu erschaffen. Univers Zero, wie auch Present übten einen nicht unwesentlich Einfluss auf die Band aus. Dissonante, avantgardistische Muster wechseln ab mit traurigen, bedrohlichen Tonfolgen, nur noch selten können sich sinfonische Progressive Rock Elemente durchsetzen. Mal klingt's wie eine Form durchgeknallte ELP, dann wieder Kirmesmusik auf dem Avantgardetrip, immerhin schimmert zwischen dieser schwer verdaulichen Kost, immer wieder melancholische Melodien bzw. bedrohlicher Bombast durch. Allein der fast zwanzigminütige Titelsong geht durch so viele Stimmungen und Wechsel, dass es einem an manchen Stellen die Synapsen verdreht. Die Leichtigkeit des ersten Albums ist völlig verflogen, Schreie, düstere Marschmusik und Synthesizergestampfe aus dem Untergrund machen dies zur Musik der Apocalypse. Dennoch legen Horizont immer noch Wert auf eine erkennbare Songstruktur, es klingt keineswegs so extrem wie z.B. bei den 5UU's oder Motor Totemist Guild, die Russen wissen wo die Grenzen des Machbaren liegen und zeigen auf Stücken, wie z.B. dem grandiosen "The final of the ballet Fahrenheit 451", dass sie immer noch hervorragenden, mitreißenden Bombast spielen können. Insgesamt fordert aber "The portrait of a boy" wesentlich offenere Ohren.

Kristian Selm



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