CD Kritik Progressive Newsletter Nr.71 (04/2011)
Van der Graaf Generator - A grounding in numbers
(48:49 , Esoteric Recordings, 2011)
Familie Van der Graaf lädt ein zur Eröffnung ihrer neuen Kunstausstellung - mit Verkauf! Vernissage am 11. März 2011, Adresse: 5533, Propagation House, England...der Generator läuft. Auf dem in einladendem Softblau gehaltenen Plakat zur Ausstellung ist die Ankündigung von Dr. Doom, Vorsitzer der altherrschaftlichen Feudalfamilie, zu lesen: "Be afraid, be very afraid..." Cut !!! Zugegeben, als ich Peter Hammill's Zitat im Vorfeld der Veröffentlichung von "A grounding in bumbers" als Antwort auf die Journalistenfrage, wie das Album denn werden würde, las, hatte ich tatsächlich Angst. Angst, dass ich - ähnlich wie auf CD2 von "Present", dem ersten Werk nach der Reunion - Vieles einfach nicht würde verstehen können, was Hammill und seine Mannen dem Hörer zumuten mögen. In "zumuten" steckt das Wort "Mut". Mut braucht es bereits seit mehr als 40 Jahren, wenn man die Musik von VdGG und/oder Peter Hammill begreifen und letztlich auch mögen will. Wer heute VdGG hört, muss mehr Mut beweisen als die Fans der 70er Jahre und verstärkte Hinwendung zu eckigen, bisweilen sperrigen Kompositionen. Mut gepaart mit der Fähigkeit, sein Ohr für neue Sphären, neue Klang- und Songstrukturen zu öffnen. Bis zum Erscheinen von "Present" war es für mich als eingefleischten Fan der "ersten Stunde" (besser gesagt: Dreiviertelstunde) nie ein Problem, in jedem Album etwas Besonderes zu entdecken. Ich fand Harmonien und Aussagen, die nur mich anzusprechen schienen, mit denen ich als Hörer stets etwas Spezielles verband, was ich für mich ganz persönlich in Anspruch nahm. Anspruch! Ich erkenne erst jetzt, nach mehrmaligem Hören von "Grounding", dass VdGG bereits seit der Reunion mit einem völlig veränderten Anspruch an sich selbst und damit auch an die Hörerschaft heran treten. Wurden früher überwiegend epische Kolosse dargeboten, die zwar stellenweise unrhythmisch, rau, schräg und jenseits aller Klischees, jedoch immer überquellend von Emotionen waren, so präsentieren sich VdGG - spätestens jetzt für alle hörbar - als Gesamtkunstwerk. Emotionen werden nicht mehr vorproduziert, sie werden dem Hörer überlassen. So ist das heute. Kunst! Egal, was darunter verstanden wird oder wie die Definition lautet: Kunst- und Kulturschaffen verändert sich über die Jahrzehnte, in denen wir hörend oder sehend daran teilhaben. Ausdrucks- und Präsentationsformen verändern sich ebenfalls, Vergleiche mit "Objekten" vor 20, 30 oder eben 40 Jahren verbieten sich. Hammill und VdGG stehen und arbeiten im Hier und Jetzt. Auch wenn das frühe Schaffen als genial, unendlich gelungen und beispielhaft modern galt und immer noch gilt, so haben sich doch die Bewertungsparameter verschoben, sie wurden runderneuert oder neu erfunden. "A grounding in numbers" ist ein durch und durch modernes Album geworden, viel moderner als das Alter der Bandmitglieder jemals nahe legen würde, und es ist ein Kunstwerk, bestehend aus 13 verschiedenartigen "Miniaturen", die, einer Ausstellung gleich, der Reihe nach vorgeführt werden. Die Songs - zwei davon instrumental - zeigen in ihrer Gesamtheit die große (Farb-)Palette der stilistischen Merkmale der Band, ohne dabei einheitlich zu wirken. Seltsam, dass hier ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der Stücke ebenso geweckt wird wie das einer Trennung durch thematisch und dramaturgisch vielseitige Präsentationen, die von Emotionen eher frei gehalten werden. Cut!!! Mit einer gehörigen Portion Beklemmung treten wir also ein in die Ausstellungsräume des "Propagation House". Die Ausstellung ist stilistisch in zweimal 5 Ausstellungsstücke (oben "Miniaturen" genannt) und 3 weitere in insgesamt 3 (Klang-)Räumen aufteilbar. Die Exponate im ersten Raum überraschen mit eher geläufigen Stilmustern aus dem Soloschaffen Hammill's sowie - wenn Banton's Orgel eingesetzt wird, aus jüngeren VdGG - Werken. Besonders gelungener Einstieg mit dem sanft-melancholisch resignativen "Your time starts now", das einzige Stück auf "Grounding" mit pathetischer Pointierung. Anschließend wird die Magie und Poesie mathematischer Formeln besungen, Grundthema und Namensgeber des Albums. Ab dem zweiten Ausstellungsteil werden die Stücke musikalisch deutlich moderner und kantiger, sind aber weiterhin als geistiges Eigentum von VdGG gut zu erkennen. Typisch im Sinne bisher bekannter Muster sind sie allerdings weniger, der Hörer muss sich mit Neuem auseinandersetzen. Im Dreier - Schlussteil wird mit "5533" das Thema Zahlen erneut aufgegriffen. Neben Ästhetik und Symmetrie war Symbolik bei PH und VdGG schon immer ein großes Thema. Kein Wunder also, wenn die 13 Songs in "zweimal 5 plus 3 in 3 Räumen" (= 5533) präsentiert werden - auch wenn PH davon möglicherweise selbst nichts ahnt! Numbers, numbers... Ob beabsichtigt oder nicht: VdGG versuchen mit "A grounding in numbers" den Spagat zwischen Kunst und zeitgeistnaher Präsentation moderner Musik. Und sie wollen sicher mit diesem Album sowohl die Schar der "alten" Fans als auch Freunde moderner Musik und der textlichen Behandlung von Problemen unserer Zeit ansprechen. Wenn diese Turnübung gelingt, dann haben VdGG gegen Ende ihrer Schaffenszeit Großes geleistet. Für alle, die sich an VdGG der Neuzeit heran wagen wollen, gilt dennoch: "Be afraid, be very afraid!" Über mich selbst hingegen ist zu sagen: mehrmaliges Betrachten, Hören, ja Eintauchen in das Album hilft, verstehen zu lernen. Gekauft habe ich die CD trotzdem vor allem des Start-Exponates wegen. Bin halt doch altmodisch. Und "eingefleischt"! Final Cut!!! Generator aus... Ach ja, Bewertung: wer traut sich, Kunst mit Punkten zu bewerten? Vorschlag: jedes Exponat erhält, wie bei einem Verkauf üblich, einen (meist roten) Punkt! Nun, es sind 13 Exponate... ;-) Vergleichbar: musikalisch mit nichts, künstlerisch allenfalls mit dem Anspruch André Hellers - der sieht sich auch als Gesamtkunstwerk...
Jürgen Wissing
© Progressive Newsletter 2011