CD Kritik Progressive Newsletter Nr.49 (08/2004)
Ayreon - The human equation
(50:49 + 51:36, InsideOut, 2004)
Vor zehn Jahren hatte Arjen Anthony Lucassen die Vision das Genre "Rockoper" wiederzubeleben. Nach etwas holprigen, verhaltenem Start, gelang ihm endlich mit seinem dritten Ayreon Werk "Into the electric castle" (1998) der große Wurf. Angesichts des Erfolges folgten ihm einige mehr oder weniger gelungene Nachahmer, hauptsächlich aus dem Hard- und Heavybereich. Nach seinem eigenen Kurzausflug in härtere Gefilde mit dem Projekt Star One, ist nun das einzig wahre "Original" wieder zurück. Das Konzept von "The human equation" ist vom Grundansatz her den anderen Ayreon Vorgängern treu geblieben. Diverse Gastsänger/innen, die verschiedene Rollen übernehmen, sorgen für stimmliche Abwechslung, während Meister Lucassen dazu einen munteren Mix aus Rock, Metal, Prog und Folk souverän und stilsicher aus dem Ärmel schüttelt. Im Gegensatz zum zweigeteilten "The universal migrator", wo jeder Sänger genau einen Song übernahm, gibt es auf "The human equation" wieder stimmliche Interaktion, was den Rockoper Charakter deutlicher verstärkt. Doch neben Altbekannten, gibt es selbstverständlich auch etwas Neues - wenn auch nur in Nuancen - auf dem sechsten Ayreon Opus. Zuerst natürlich die Geschichte, die von einem Karrieremenschen handelt, der nach einem schweren Unfall ins Wachkoma fällt. Während die ihm nahestehenden Menschen an seinem Bett stehen, kämpfen seine Wesenszüge in 20 Tagen (=20 Songs) um die Vorherrschaft. Die Rolle des Protagonisten übernimmt James LaBrie, während sich hinter den Wesenzügen u.a. Heather Findlay (Mostly Autumn), Eric Clayton (Saviour Machine), Mikael Akerfeldt (Opeth), Devon Graves (Dead Soul Tribe, ex-Psychotic Waltz) bzw. Devin Townsend verbergen. Die stimmliche Bandbreite ist damit in jeder Richtung ziemlich extrem gehalten. Neben den wunderschönen, engelsgleichen Frauenstimmen - besonders herauszuheben gilt es hier die bisher noch recht unbekannte Marcela Bovio - warten die männlichen Gegenparts mit allem auf, was die Stimmbänder hergeben. Das reicht von opernhaften Geschmettere (Eric Clayton) bis hin zu überdrehtem Gekreische (Devin Townswend) und mächtigen Growls (Mikael Akerfeldt). Doch keine Angst, dem gegenüber stehen natürlich jede Menge ganz "normale" Gesangsparts. So vielfältig die stimmliche Breite, so geht es auch im musikalischen Bereich mehr in die Randbereiche, ohne dass Lucassen auf die ihm typischen Ayreon Merkmale verzichtet, einige mal sich auch ganz augenscheinlich bei seinen Vorbildern bedient. Doch sind insgesamt die harten Parts wuchtiger, aggressiver, die folkigen Momente wirken fragiler, atmosphärischer. Dies liegt zum einen an den härteren Stimmen, zum anderen sicherlich am klassischen Streichinstrumentarium, welches jedoch sorgsam und nie zu überladen eingebracht wurde. Gestreiche und Geflöte sorgen somit nicht für aufgeblähten Sound, sondern fügen sich harmonisch ins Gesamtkonzept ein. Als Gastmusiker dürfen dieses mal u.a. Martin Orford (IQ, Jadis), Ken Hensley (ex-Uriah Heep) flink bzw. gefühlvoll über die Tasten huschen. "The human equation" wird sicherlich seinen Platz in den vorderen Rängen der Jahrescharts finden, setzt es doch konsequent den typischen Ayreon Stil, die stimmige Atmosphäre, das Spiel mit inhaltlichen Gegensätzen fort. Die Meßlatte für alle Nachahmer ist wieder ein Stückchen höher gelegt worden. Begleitend zum Album sind übrigens noch die zwei Singles "Day eleven: Love" und "Loser" erschienen, die mit unveröffentlichten Material, sowie Coverversionen nochmals einen Kaufanreiz für die Fans darstellen.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 2004