CD Kritik Progressive Newsletter Nr.24 (03/1999)
Ayreon - Into the electric castle
(47:27 + 57:14, Transmission Records, 1998)
Eigentlich hatte ich das Thema Ayreon für mich nach dem Kauf des Debütalbums abgehakt, da trotz einiger guter Songs, dank massiven Einsatzes diverser Heavy Shouter, der Gesamteindruck eindeutig negativ war. Neulich hielt ich dann wider Erwarten sein aktuelles Werk, als "Space opera" untertitelt, in der Hand. Da sieht man mal wieder, wozu eine schöne Covergestaltung gut sein kann. Aufgemacht wie eine Fantasy-Adventure-Game-CD-ROM, dazu die Auflistung der illustren Gastmusikerschar - und schon waren meine Bedenken angesichts seines eher schwachen Debüts kurzfristig aus dem Gedächtnis gestrichen. (Zugegeben: ein günstiger Preis half hierbei auch ein wenig nach). Bei Durchsicht der abgebildeten Sänger hätte ich schwören können, dass auch ein gewisser Ray Wilson mit von der Partie ist, doch handelt es sich hierbei um Mastermind Arjen Anthony Lucassen, den Komponisten dieses Konzeptalbums, der für sämtliche Gitarrenparts (ausgenommen Sitar) und diverse Tasteninstrumente (u.a. auch Mellotron, Minimoog) verantwortlich zeichnet. Die Sänger/innen treten in fest zugeteilten Rollen auf, so u.a. Fish als Highlander, Anneke van Giersbergen (The Gathering) als Egyptian, A.A.L. als Hippie, Damian Wilson als Knight oder Edward Reekers (Kayak Leadsänger in deren Spätphase). Dazu gesellen sich diverse Tastenspieler wie Ton Scherpenzeel (Kayak-Keyboarder in deren Früh-, Mittel- und Spätphase; auch eine Weile bei Camel), Robby Valentine oder der unvermeidliche Clive Nolan. Aus Hollands Top-Garde darf auch Ex-Focus-Flötist Thijs van Leer nicht fehlen, der hier einige barocke Elemente beisteuert. Eine wichtige Rolle spielt auch der Geschichtenerzähler Peter Daltrey (kurzer Abstecher: ich bin mal sehr gespannt, wie sich "Picard"-Patrick Steward als Narrator auf Wakemans "Return to the centre of the earth machen" wird). Soweit zu den Personalien, nun zur Musik. Nach mehrfachem Hören und sich dabei einstellender wachsender Begeisterung muss ich sagen: Respekt, ich hätte dem Holländer nicht zugetraut, dass er mich derart überzeugen kann. Bedingt durch die Vielzahl an Sängern und den Versuch, diverse Stilmittel zu vermengen, wird kaum jemand ehrlich behaupten, dass ihm dieses Album vom ersten bis zum letzten Ton gefällt. Doch im Gegensatz zu seinem Erstlingswerk bekommt Herr Lucassen in den kritischen Momenten, die beginnen, mir auf die Nerven zu fallen, diesmal immer genau im richtigen Moment wieder die Kurve. Ein schönes Beispiel hierfür ist das 10-minütige "Amazing flight". Hier agiert z.B. Sänger Jay van Feggelen, dessen Stimme ich definitiv nicht mag; doch bevor sich ein negativer Eindruck zu sehr festsetzt, geht der Song in eine ganz andere Richtung und endet schließlich in Focus-ähnlichen Bahnen. Gitarren- und Tastenarbeit überzeugen durchweg, mit Fish, van Giersbergen, Wilson, Reekers hat Lucassen eine ausgezeichnete Wahl getroffen, und was - ganz im Gegensatz zu den später besprochenen Like Wendy - besonders auffällt: hier ist wirklich Schwung und Schmackes drin. Schon der Titel "Isis and Osiris", der auf das spacige Intro folgt, ist ein absolutes Highlight und zeigt die ganze Bandbreite. Hier ist alles drin: zunächst geht es leicht folkig los, dazu die passende Stimme von Fish, später geht es richtig deftig zur Sache. Alles in allem ein exzellentes, abwechslungsreiches Konzept-Doppelalbum mit wenigen (durchaus verzeihbaren) Durchhängern. Ein Album, das in den üblichen Polls vermutlich ziemlich weit oben rangieren wird (gut getippt Jürgen! Anm. El Supremo).
Jürgen Meurer
© Progressive Newsletter 1999