CD Kritik Progressive Newsletter Nr.40 (06/2002)
Ange - Culinaire lingus
(73:58, Un Pied Dans La Marge, 2001)
Seit den späten Sechzigern existieren Ange, die in ihrer Hochzeit gerne als die französische Ausgabe von Genesis gefeiert wurden und westlich des Rheins, auch heute noch, über einen wahren Kultstatus verfügen. Von der ursprünglichen Besetzung ist inzwischen nur noch der stimmgewaltige Sänger und Kopf der Band Christian Décamps mit dabei, der vor einigen Jahren nach vielen Jahren als Solokünstler, einfach den Namen seiner ehemaligen Band exhumierte und mit einer neuen, grunderneuerten Besetzung Ange in das aktuelle Musikgeschehen überführte. Ange klingen heute, durch die gelungene Blutauffrischung mit jungen Musikern, in den Sounds aktuell und modern, ohne dass man auf den Brückenschlag zur progressiven Vergangenheit verzichtet. Jedoch wird sich hier nicht einfach bei Altbekanntem bedient und lieblos zitiert, vielmehr ist den Franzosen eine zeitgemäße Version von modernem Progressive / Sinfonic Rock gelungen. Dass die Band auch außerhalb ihres Heimatlandes über eine unbestreitbare Faszination verfügt, spiegelt sich z.B. in der Tatsache wieder, dass Porcupine Tree Mastermind Steven Wilson auf dem aktuellen Album "Culinaire lingus" zwei Titel für eine seiner Lieblingsbands produzierte. Aber auch auf und im Umfeld von "Culinaire lingus" findet man jede Menge bekannte Namen. Die breit gefächerte französische, aber auch internationale Musikszene gibt sich auf "Culinaire lingus" ein Stelldichein. Einen kurzen Gastauftritt haben u.a. Jean-Pascal Boffo, der Bretone Dan Ar Bras, Norbert Krief (von der französischen Hard Rock Legende Trust), der australische Ausnahmegitarrist Tommy Emmanuel (arbeitete u.a. mit Eric Clapton, Chet Atkins, John Farnham, Joe Walsh, Leo Kottke zusammen), sowie Jan Akkerman. "Culinaire lingus" ist die Fortsetzung der auf "3ème etoile à gauche" (1997 noch unter dem Namen Christian Décamps & Fils eingespielt) und dem 99er Werk "La voiture à l'eau" eingeschlagenen musikalischen Ausrichtung. Ange sind für ihre Verhältnisse recht wuchtig, fast schon heavy, sehr direkt und unheimlich bombastisch. Dennoch bleibt auch immer wieder Raum für die mehr lyrischen, balladenhafte Momente, dem leicht Chanson-artigen Einfluss des Heimatlandes. Auf den beiden von Steven Wilson produzierten Titeln hört man eindeutig seine Handschrift durch, wie sich überhaupt die heutige Reinkarnation von Ange recht modern und gegenüber neuen Dingen sehr offen gibt. Da wird kräftig losgerockt, es gibt aber auch Platz für Besinnung und Ruhe - kürzere, kernige Nummern wechseln mit stimmungsvollen, epischen Longsongs ab. Die Gitarre hat in diesem Geflecht eindeutig die instrumentale Führungsrolle übernommen. Da sie vom sehr guten Gitarristen Hassan Hajdi jedoch in wechselnden, verschiedenen Spielweisen von hart und heftig bis gefühlvoll sanft fließend eingesetzt wird, kommt nie Langeweile auf - man wird regelrecht von den Saiten fortgetragen. Ange beweisen auf "Culinaire lingus", dass man trotz progressiver Wurzeln keineswegs auf aktuelle Einflüsse verzichten muss. Ein Album, das in seiner Frische, Wildheit und Besinnlichkeit aufwühlt und begeistert, einfach Lust auf mehr macht. Grandios!
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 2002