CD Kritik Progressive Newsletter Nr.40 (06/2002)

5uu's - Abandonship
(48:39, Cuneiform, 2002)

Ich habe Dave Kerman letztes Jahr auf dem Artrock-Festival in Würzburg kennengelernt, er rannte barfuss mit Bier und Zigarette durch das noch leere Auditorium, eher zurückhaltend, kein bisschen arrogant. Ich fragte nach 5uuïs und er meinte, dass die(se) Aufnahmen bereits fertig seien. Wie unendlich lang musste ich warten, bis endlich Cuneiform sich erbarmte und die CD veröffentlichte! Und wie bass erschreckt war ich beim ersten Durchhören: die Kaltschnäuzigkeit, das Plagiat, die Starre und entsetzliche Ödnis der Aufnahmen! Allem voran Deborah Perryïs Gesang, der das erste Stück mit einem eiskalten "you must be joking" eröffnet. Die Vocal-lines (wie die Sängerin) sind von Thinking Plague gestohlen, die abstrakten und atonalen, mittlerweile typischen instrumentalen Muster plärrten leer, ohne Sinn, stupide, mit verdampfter Energie, frei von Virtuosität - mir schien, der Ausstieg von Bob Drake, das Schrumpfen der Band auf Dave Kerman + einige wenige "Helfer" würden dieses einst so vielversprechende Projekt des Progressive Rock verenden lassen. Gar taten sich im dritten, über 9 Minuten langen "Thoroughly modern Attila" - und nicht nur hier - zum Ende erschreckende und widerliche, wenngleich nur kurzzeitig, Technobeats auf - die Todsünde schlechthin! 5uuïs ist kein junges Projekt - die Band veröffentlichte bereits 1984 eine LP, damals im, na, kunstorientierten New Wave beheimatet, mit einigen wenigen progressiven Schlenkern im hölzernen Sound und lächerlichem Gesang. 1986 gab es eine Zusammenarbeit mit den (damals progressiv-avantgardistisch orientierten) The Motor Totemist Guild, die wohl die Initialzündung gaben. Es dauerte bis 1992 und "Hungerïs teeth" markierte den absoluten Höhepunkt der losen Formation um Bob Drake, Sanjay Kumar und Dave Kerman. In der Zwischenzeit waren The Motor Totemist Guild und 5uuïs zu U Totem verschmolzen, zwei illustre Alben ("U Totem", "Strange attractors") zu veröffentlichen, die nicht mehr wegzudenken sind. Aber "Hungerïs teeth" war unschlagbar. Als würden Yes mit Henry Cow das zu verbindende Thema: komplexe Musik, vielfältige Emotionen, Artwork, abstrakte Melodien und kühne, schier wolllüstige, wilde Einspielung hochwissenschaftlich auswerten. Im Nachgang folgten das übervoll tönende "Crisis in clay" und die etwas ungaren "Regarding purgatories", beide wiederum sehr anspruchsvoll und wunderschön, letzteres bereits mit Deborah Perry. "Abandonship" leidet vor allem an Dave Kerman, dem Schöpfer. Die Hilferufe nach Bob Drake sind überlaut. (Bob Drake hatte sich vor einigen Jahren, gleichfalls von der Schwestercombo Thinking Plague, abgewandt, um avantgardistischen Country zu kreieren, der gut zeigt, wie Yes im Cajun klingen würden.) Die Dünne des Arrangements kann nicht durch die vielfältigen Illustrationen weggelöscht, die schmale Brust der Songs durch allerlei Tonschnipsel und Soundspielereien nicht aufgewertet werden. Zudem, was sollen hier der rückwärts abgespielte Gesang, dort die Grunzlaute? Ist "Abandonship" nur der schale Abgesang auf bessere Tage? Doch der erste Eindruck täuscht. Schon beim zweiten Anhören verfiel ich den schnatterhaften Stücken, die wenig Wert auf Liedhaftigkeit, Melodie und Hörfreundlichkeit legen. Gewiss verspüre ich den etwas faden Beigeschmack, der sich des öfteren auftut, vor allem in den wenigen (und kurzen) Momenten, in denen Soundmann Udi Koomran besagte Technorhythmen wie Gift in die abstrakte, atonale und doch wohltuende Brühe kippt. Wieder und wieder eröffnet sich mir jetzt ein ganz anderer Gedanke: dass ich das überhaupt noch einmal erleben darf, diese spleenige, überkomplexe Musik! Progressive Rock, der von vitalen, doch verkrüppelten Stimmungen, unorthodoxen, frappierenden Motiven, angriffslustigen, gegeneinander aufgebauten Stupiditäten, schrillen, enthobenen Abstraktismen lebt. Wenig "Rock", eher Rock-parallele Intonation, in Rhythmus und Bass-Arbeit zwischen hyperaktiv und repetitiv wechselnd. Die Gitarre flicht löchrige Melodien, bewusst unprofessionell gesetzt, eher plärrig und clownesk. Es scheint, als würde ein manisch-depressiver Patient lautstark aufarbeiten, was ihm in guten und schlechten Momenten durch's Hirn läuft; mal etwas komischer, mal etwas strenger, doch immer abwegig, stets neben dem guten Ton; unrein, garstig, dreckig, spröde, kühl, wirr - und doch: nach den vielen Stimmungs-, Melodie- und Ausdruckwechseln (in "Noahïs flame" zum Beispiel) entwirft sich ein bombastisches Motiv, ganz in progressiver Tradition. Artig / brav (nette Worte, nicht?) zu sein, vermag 5uuïs jedoch nicht gelingen. Das Konstrukt "Abandonship", Dave Kermanïs vorwitzige, forsche und ein wenig überkandidelte Sicht auf populäre Musik, ist ein notwendiger und in seiner Eigenart gewiss auch typischer Ausdruck dieser Zeit. Sicherlich auch politisch inspiriert - seit einigen Jahren hält Kerman sich hauptsächlich in Israel auf - übersetzt es das Wesen Mensch in Töne. Der antimelodische und doch so unbeschreibbar wunderbare Gesang Deborah Perryïs verleiht den Tönen einen Hauch Leben; kaltschnäuzig, kühl, aber doch virtuos, lebendig, hingebungsvoll. Das ist mit Worten nicht eigentlich auszudrücken, sondern erschließt sich nur, wenn man sich dieser tonalen Halde, die in sich selbst verfangen auf plausible Art von ihrer gestrandeten Natur erzählt, offen nähert. Einmal mehr gilt: wer seine Grenzen liebt und darüber nicht zu denken mag, widme sich seinem Horizont. Das Ende dieses musikalischen Holperganges wird wieder markiert von Deborah Perry, mit markant schneidendem, schrecklich und arrogant kühlem: "Ok! Ok!". Ich komme an der repeat-Taste nicht vorbei.

Volkmar Mantei



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