CD Kritik Progressive Newsletter Nr.39 (03/2002)

t - Naive
(67:55, Galileo, 2002)

Vor Jahresfrist debütierte Scythe mit "Divorced land" auf dem Schweizer Label Galileo und fand im unübersichtlichem Wust der Neuerscheinungen recht große Beachtung, nicht ganz unumstritten. Scythe polarisierte mit einer intelligenten, aber vielleicht gewöhnungsbedürftigen Mischung aus verschiedenen Einflüssen der progressiven Rockmusik. Gerade die Vokalperformance war mehr als umstritten und galt sie mir für durchaus gelungen, weil sehr eigen und mutig (und technisch durchaus ausgereift, auch wenn das keiner so recht wahrnehmen wollte), stürzte sich ein Teil der schreibenden Zunft (und der Szene) auf t's Stimme, empfand sie im Klang oder in ihrer Wirkung als unschön und deutete dies als falsch gesungen. Sei es wie es sei - stimmlich hat t sich deutlich weiterentwickelt, sein Gesang ist expressiver geworden. Gelöst von den Zwängen des etwas starrem Art-Rock-Korsetts, entfaltet er auf seinem Solo- Debüt "Naive" seine stimmlichen und technischen Möglichkeiten und v.a. seine Ausdruckskraft. Nicht nur wegen des alphabetischen Namens drängt sich der Vergleich zu h / Steve Hogarth auf, auch das Timbre erinnert an den Marillion- Frontmann. Auf der anderen Seite traut sich t nun, Gefühl über Technik zu setzen, Thom Yorke von Radiohead mag hier als Referenz dienen. Überhaupt scheint nun nichts mehr, wie es vor einem Jahr war, verzichtet t doch zum Großteil auf genau jene musikalische Ingredienzien, die den Scythe-Sound ausgemacht haben. Seine Kompositionen sind deutlich songorientierter, textbetonender, v.a. musikalisch begeht t auf naive völlig neue Wege, in gewisser Weise ganz dem Titel des Albums entsprechend "Naiver", einfacher. Es fehlen weitgehend die vertrackten, verschachtelten Passagen, stattdessen verpasst t sich und seinen Songs einen sehr modernen Sound, der die Anleihen an Radiohead, Portishead etc. nicht verneinen kann, es wohl auch nicht will. Mal abgesehen von der ganzen Vergleicherei (die ja letzten Endes mehr verschleiert, als erklärt) ist "Naive" ein sehr persönliches, intimes Album, sehr düster in seiner Wirkung, beklommen, bedrohlich, manchmal regelrecht verzweifelt. Offensichtlich ist das Album auch eine ganz persönliche Aufarbeitung von Vergangenheit, andererseits wirkt es auch auf den Hörer sehr suggestiv, persönlicher Albtraum inklusive. Bemerkenswert ist, dass t das Album komplett selbst eingespielt, aufgenommen und produziert hat und das ihm dennoch (oder gerade deswegen?) das bisher bestklingenste Galileo-Album gelungen ist, wohl auch weil das Mastering nicht der berühmte (und teure) aber glücklose Bob Katz übernommen hat, sondern der brillante Andy Horn - ein Name, den man sich merken sollte. Das sehr passende und gelungene Artwork stammt vom blutjungen und talentiertem Artworker anifan, noch ein Name, den man sich nicht vergessen sollte, hebt sich seine Arbeit doch so wohltuend vom Prog-Artwork-Einerlei ab. "Naive" ist ein sehr persönliches, privates Album, das Scythe-Kenner von der ersten bis zur letzten Minute überraschen wird und durch seine atmosphärische Dichte den Hörer zu packen weiß. Prog-Puristen werden sich mit Sicherheit an den viel zu modernen Sounds und an den viel zu straighten Kompositionen stoßen; wer mit der zeitgenössischen Post Rock Szene etwas anfangen kann, der sollte dem Album eine Chance geben, es lohnt sich.

Sal Pichireddu



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