CD Kritik Progressive Newsletter Nr.24 (03/1999)
The Flower Kings - Flower Power
(68:41 + 73:38, Foxtrot Records, 1999)
Dass man immer so unter Druck gesetzt werden muss! Da erfahre ich gerade von Herrn Selm, dass ich gefälligst bis morgen die Kritik zum neuen Flower Kings-Album fertiggestellt haben muss. Natürlich darf sie in der kommenden Ausgabe nicht fehlen, da "Flower Power" als CD des Monats vorgesehen ist. Ich habe das Doppelalbum in seiner epischen Breite bisher ca. 10-12 mal gehört, doch ich habe nicht den Eindruck, dass ich dieses Werk schon vollständig erfasst und begriffen habe. Ich denke, "Flower Power"gehört zur seltenen Spezies solcher Alben, bei denen man auch beim zig-sten Hördurchgang immer noch Neues entdeckt und bei dem ich zur Behauptung tendiere, dass 10maliges Hören noch nicht ausreicht, um sich ein abschließendes Urteil zulegen zu können. Speziell das Kernstück dieses Doppelalbums, das knapp 60-minütige (!!) "Garden of dreams", macht es dem Hörer wahrlich nicht leicht. Fange ich also lieber mit einem einfacheren Stück an, dem ersten FloKi-Track, der von Drummer Jaime Salazar stammt und den schönen Titel "IKEA by night" trägt. Hier entdeckt er die Möglichkeiten, wie viel Schlagzeug man in 5 Sekunden (damit haben wir also das andere Ende der Skala erreicht) unterbringen kann. Was schon bei den ersten Hördurchgängen auffällt, sind folgende Punkte: 1. Roine singt die meisten Songs, Hasse Fröberg taucht eher selten in der Rolle des Lead-Sängers auf. Hier befinde ich mich übrigens in einem gewissen Dilemma. Ich mag die Stimme von Hasse Fröberg sehr und war dementsprechend anfangs etwas enttäuscht, dass er nur recht selten im Vordergrund steht. Andererseits muss ich sagen, dass Roine auf diesem Album auch als Sänger glänzen kann, wobei mir mittlerweile klar ist, dass speziell bei den düsteren Kapiteln von GoD seine Stimme wesentlich besser zur vorherrschenden Atmosphäre passt. 2. Hasse Bruniusson, von dem man eigentlich nie so recht weiß, ob er noch offiziell zur Band gehört, hat wieder alle Hände voll zu tun. 3. Nicht alle Songs wurden von Roine geschrieben, diesmal ist Keyboarder Tomas Bodin sehr stark in die Kompositionen eingebunden. Auch ein (sehr schöner) 8-Minuten-Song aus der Feder von Hasse Fröberg ist auf CD 2 vertreten. 4. Die Covergestaltung, speziell das Inlet, ist gut gelungen. Natürlich wird wieder reichlich von dem geboten, was die Schweden zu dem gemacht haben, was sie mittlerweile unbestritten sind, nämlich eine Top-Adresse im Prog-/Art-Rock-Bereich: die typischen Gitarrensoli in allen möglichen Facetten, die hinreißende Tastenarbeit und die superbe Rhythmusgruppe, ausgiebig durch Percussionist Bruniusson unterstützt. Aber es gibt auch einige neue Elemente, und damit bin ich wieder beim monströsen 1-Stunden-Titel. Dieses in 18 Untertitel aufgegliederte Magnum Opus ist eine Kollaboration von Roine und Tomas, der hier mehr als nur einige kurze Keyboard-Intermezzi beisteuert. Es beginnt zunächst recht gemächlich und sehr melodiös, in "Attack of the monster brief attack" geht es dann zum ersten Mal kräftig zur Sache, danach kann sich Hasse B. an allen möglichen Perkussionsinstrumenten und Trillerpfeifen austoben. Mal an Yes, mal an King Crimson erinnernd, geht es zunächst FloKi-typisch weiter. Im gleichnamigen Untertitel ("Garden of dreams") taucht Hasse Fröberg erstmals als Leadsänger auf. Irgendwie klingt es untypisch und eine leicht bedrückende Stimmung schleicht sich trotz der sehr schönen Melodie ein. Am Ende beginnt ein sehr schöner Part mit Marimba-Sound und perlender Gitarre im Stile von an "Inmates lullaby" (Gentle Giant-Song auf "In a glass house"), den Zuhörer einzulullen, als urplötzlich fetzige Gitarre, wilde Synthies und pumpender Bass von Roines Bruder Michael jäh die Ruhe unterbrechen. "Don't let the devil in" heißt der Song, der mich leicht an "Go west Judas" erinnert. Es folgt ein Stück mit massivem Percussion-Einsatz und leichtem Crimson-Touch, ein typischer FloKi-Song. Nach einer kurzen, sehr schönen Nummer geht es jetzt endgültig in völlig andere Bahnen. Nun kommt auch der Untertitel des Albums ins Spiel, der hier wohl am besten passt: "A journey to the hidden corners of your mind". Gesampelte Opernstimmen leiten eine neue FloKi-Welt ein. Die nachfolgenden psychedelischen Ausflüge (in eben diese hidden corners?) werden sicherlich nicht jedermanns Sache sein. "The mean machine" kommt mir wie eine moderne Version des Pink Floyd-Titels "On the run" vor, an den sich ein ausgesprochen merkwürdiges Stück von "Mr. Hope" Tomas Bodin anschließt, nämlich "Dungeon of the deep". Düster, sehr düster! Unheilschwangere Synthesizer, Sirenengesang, schließlich eine Art La Montanara-Chor, die Spannung kumuliert und entlädt sich in kurzem Gewitter mit anschließendem Mellotron-Ausklang. Mit klassischem Pianoteil geht es weiter, und ich werde das Gefühl nicht los, gerade eine neue CD der Gruselspezialisten Devil Doll zu hören. Gewöhnungsbedürftig, aber gnadenlos gut gemacht - und mir gefällt gerade dieser Abschnitt sehr gut. Erst ab Untertitel 15 ("Sunny lane") geht es wieder in normalen FloKi-Bahnen weiter, hier schimmert wieder ein bisschen alte Kaipa durch. Ein brillantes Zusammenspiel von Roines Gitarre und Tomas' Tasten ist in "Gardens revisited" und "Shadowland" zu hören (hier stimmen übrigens die angegebenen Spielzeiten definitiv nicht), bevor im abschließenden "The final deal" die Melodie, die wir bereits in "There's no such night" hörten, dieses außergewöhnliche Opus beschließt. Ein weiterer 8-Minuten-Song, eine Zusammenarbeit von Roine und Jaime Salazar, beschließt FP, Teil 1. Die zweite CD bietet wieder viel von dem typischen Flower Kings-Sound. So gehört schon der 11-minütige Eröffnungstitel "Deaf, numb & blind" zu den Höhepunkten dieser CD. Auch der recht eingängige (dem IOC gewidmete?) Song "Corruption" ist sehr gelungen. Seine Vorliebe für die Kirchenorgel (neben dem allmächtigen Mellotron) zeigt Tomas Bodin im wunderschönen "Power of kindness". Offensichtlich gehören die Kirchenorgel-Kompositionen zum FloKi-Standardprogramm, und das ist gut so, denn ob auf seinem Soloalbum oder bei den letzten FK-Veröffentlichungen, diese Bodin-Titel sind immer ein Genuss. Das knapp 10-minütige "Psychedelic postcard" beginnt mit völlig verdrehten, manipulierten Vocals, die sich erst im Verlauf des Stückes normalisieren - im Refrain klingt es dann wie Starcastle. Das instrumentale "Hudson river sirens call 1998" passt stimmungsmäßig bestens zum Mittelteil von "Garden of dreams": relativ ruhig angelegt, klassischer Frauengesang, alles irgendwie etwas unheimlich. Sehr schön ist der Fröberg-Song "Magic pie" (8:19), der hervorragend ins FloKi-Gesamtbild passt, und auch die restlichen 3 Titel lassen nie Langeweile aufkommen, was bei einer derart komplexen Doppel-CD wahrlich nicht einfach ist. Das 11-minütige "Calling home" gehört mittlerweile zu meinen Lieblingssongs dieser zweiten CD. Eines kann man Roine Stolt ganz gewiss nicht vorwerfen, nämlich dass er stets gleiche, immer nach dem selben Schema gestrickte Soli bringt. Die Bandbreite seines Inputs an der Gitarre ist einfach unglaublich, dazu - ich wiederhole mich hier permanent - die absolut stimmige Ergänzung an den Tasteninstrumenten durch Tomas Bodin. Ich bin mal sehr gespannt, was die Schweden von diesem Album live umsetzen können. Für mich ist FP sicherlich nicht ein Album wie jedes andere - hier gibt es einige Überraschungen, und das kann man von ihnen wohl auch für die nächsten Jahre erwarten. Zur Musik der FloKis gehörte bisher immer eine ordentliche Portion Humor, auf "Flower Power" lernen wir jetzt jedoch auch eine andere, düstere (aber hochinteressante) Seite der Schweden kennen. Für alle Flower Kings-Fans besteht sowieso Kaufzwang, wer tatsächlich bisher noch nie etwas von den Schweden gehört haben sollte, sich aber für Prog-Rock mit Wurzeln in den 70ern (Yes, King Crimson, Gentle Giant, Genesis) interessiert, sollte die Flower Kings unbedingt mal antesten, vielleicht aber mit "Stardust we are" beginnen. Ich will hier gar nicht erst rätseln, welches das beste FK-Album bzw. wo FP einzuordnen ist. Man sollte lieber FP mit den aktuellen Werken anderer Prog-Bands vergleichen, und da brauchen sich die Schweden sicherlich vor keiner Band zu verstecken. Nicht mit einem derart komplexen, intelligenten Album.
Jürgen Meurer
© Progressive Newsletter 1999