Interview

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(Progressive Newsletter Nr.56 07/06)
Ausschnitte eines Interviews mit Thomas Thielen (Gesang, Gitarre, Bass, Keyboards)


Vier Jahre dauerten die Arbeiten an "Voices". Wie kam man sich den Entstehungsprozess über einen so langen Zeitraum vorstellen?

Das ist schwer zu beschreiben. Eigentlich wollte ich ein eher lockeres Album machen, anspruchsvollen Pop. Gelandet bin ich jetzt bei einem Konzeptalbum voller Mellotronchöre. Irgendwann, als sich die Melodien verschiedener Stücke beim Komponieren und Arrangieren wie von selbst ineinander fügten, war klar, dass das ganze eine proggige Richtung einschlagen würde. Das erste Stück, das fertig wurde, war übrigens "Curtain call", das letzte "Second thoughts".


Was hast Du sonst noch angestellt?

Zuerst hab ich meine Promotion in klassischer Philologie und Anglistik beendet und das Referendariat gemacht; jetzt arbeite ich schon zwei Jahre als Lehrer in der Nähe von Hannover, was bedeutet, dass mein bisheriger Freundeskreis 500 km weit weg wohnt. Interessanterweise sind die Freundschaften dadurch aber eher intensiver geworden - am Anfang hatte ich ganz schön die Hosen voll, dass ich bald allein dastehen könnte. Dann war da noch eine CD meines Schüler-A-capella-Projektes - mit diversen Coverversionen, unter anderem eine Barbershop-Version von „Boys don’t cry“ und „I will survive“ als Flamenco – die ich produziert habe. Die ist der Renner, die Kiddies grooven ganz schön. Es gibt auch ca. 50 Minuten Musik, die es nicht auf das Album geschafft haben, die aber sicher für das nächste Projekt nochmal auflaufen werden.


Siehst du es eher als Vor- oder Nachteil ganz alleine für Texte und Musik zuständig sein, gerade auch im Vergleich zu deiner ehemaligen Band Scythe?

Erstens: ehemalig? Wir haben das Ganze nie wirklich beendet! Zweitens: es ist einfach anders. Bei Scythe war es interessanterweise fast immer so, dass Udo (Gerhards, Keyboarder der Band, Anm. der Red.) die Gitarrenparts mehr am Herzen lagen als mir, während ich viele der Klavierpassagen zu den Songs beigesteuert habe. Dazu kommt, dass ich damals als Sänger noch nicht in der Liga gespielt habe, die ich für Udos extrem vertrackte Linien gebraucht hätte - und manchmal auch für meine eigenen. Ich überlege übrigens gerade, ob ich "Denied" neu aufzunehmen kann, weil die vorliegende Version dem Potenzial der Komposition und dem Arrangement einfach nicht gerecht wird, weder in der Soundqualität noch spieltechnisch. Insgesamt würde ich aber sagen, dass die beiden Arbeitsweisen schwer zu vergleichen sind, zumal wir bei Scythe doch ein ganzes Stück grüner hinter den Ohren waren.


Ist eine Reunion mit den alten Recken völlig ausgeschlossen? Es gab doch mal diese Gerüchte über eine neue Zusammenarbeit mit Udo Gerhards.

Ich glaube, dass wir beide Riesenlust hätten, aber es ist zeitlich und topographisch schwierig. ich will es auf keinen Fall ausschließen – ich habe eigentlich bisher noch keinen Musiker getroffen, von dem ich eine ähnlich hohe Meinung hätte wie von Udo. Also, Udo, falls du das liest...


Wird es vielleicht eine echte T.-Band geben, sprich: sind Konzerte geplant?

Es wird in Hannover wohl einige spontane Abende am Piano geben, ebenso ist in Trier manches im Gespräch, allerdings keinesfalls Konzerte mit Band - obwohl "t-com" schon ein cooler Projektname wäre. Ich habe einfach überhaupt keine Lust, die Musik zu erklären, was bei über 50 Spuren pro Track bei den meisten Songs echt in Arbeit ausarten würde. Die Alternative bestünde in Vereinfachung, und das behagt mir noch weniger, weil gerade die motivische Verknüpfung das Album zusammenhält. Übrigens überrascht mich, dass noch kein Kritiker die Leitmotive entdeckt / erwähnt hat, derer es einige gibt. Ich werde also lieber nach so was wie der Seele der Songs suchen und sie so präsentieren, wie zwei Hände und eine Stimme das können. Das erfordert allerdings eine Menge Mut, weil dadurch klar werden dürfte, wie fragil die Musik eigentlich ist. In gewisser Weise ist es leichter, sich hinter den Beats zu verstecken. Mit reiner Pianobegleitung wird die Aussage der Musik und Texte viel mehr in den Vordergrund gerückt.


Gibt es für dich so etwas wie eine Gegenkontrolle bzw. Einflussnahme von anderen für deine Musik oder arbeitest du deine Ideen ganz alleine im stillen Kämmerlein aus?

Es ist tatsächlich letzteres, wobei meine Frau wirklich wertvolle Tipps gegeben hat. So gab es zum Beispiel bei "Curtain call" eine Drumloop, die ganz durchging und dadurch die Dynamik zerstört hat. Diese Loop war aber eigentlich die Ur-Hauptidee des Stückes, so dass ich alleine nie auf die Idee gekommen wäre, gerade die wegzunehmen, bis Katia sagte, dass dieses "chickdadachick" echt nerve. Und ab da wusste ich, wohin ich das Stück bringen musste.


Welche inneren Stimmen verbergen sich hinter dem Konzept von "Voices"? Ist das Album ähnlich autobiographisch wie "Naive"?

Es ist eher persönlicher, aber auch kryptischer. „Naive“ war ja auch ein Konzeptalbum, wenn auch mit weniger sichtbarem roten Faden. Während der letzten vier Jahre hat sich so viel verändert, und so etwas ist selten wirklich erfreulich, während man mittendrin steckt. Ich persönlich bin mir zwar durchaus bewusst, dass Veränderung notwendig und gut ist, aber ich hatte während dieser vier Jahre viele Selbstzweifel und einfach Angst davor, dass das Leben jetzt Ernst macht. Insofern kannst du vor allem das hören, was in der Wolfsstunde passiert, nachts, kurz bevor man einschläft, wenn man Dämonen und Gewissen nicht mehr auseinander halten kann und von jetzt auf gleich deine Grundfesten zu schwanken scheinen.


"Voices" ist wieder proggiger ausgefallen, als das postrockige "Naive"-Album. Hast Du Deinen Frieden mit der Prog gemacht?

Er hat mich heimgesucht. Außerdem ist das doch nur die Form. Ich denke nicht, dass "Voices" viele Klischees beinhaltet, und das mag ich am Feld-, Wald- und Wiesenprog nicht besonders. Bands wie die Flower Kings machen auf hohem Niveau doch immer wieder dasselbe. Versteh mich nicht falsch, das machen sie verdammt gut, aber ich persönlich habe nach "Unfold the future" gedacht, dass es mir jetzt langsam reicht, dass eine Soundvariation dringend erforderlich wäre. Ich hatte gehofft, mit "Voices" nicht in eine ähnliche Falle zu tappen.


Kristian Selm & Sal Pichireddu © Progressive Newsletter 2006