Interview


(Progressive Newsletter Nr.46 10/03)
Ausschnitte des Interviews mit Philipp Jaehne (Keyboards)


Mit “Winter’s Edge” führt ihr die jahrezeitliche Verbindung Sommer – Herbst – Winter der letzten Alben fort. Gibt es schon Ideen für den musikalischen “Frühling” und wie es danach weitergeht?

Es gibt noch keine konkreten musikalischen Ideen. Aber klar ist, dass das Frühlings-Album ein sehr optimistisches werden muss. Musikalisch lockerer als die bisherigen, vielleicht mit ein paar folkigen Elementen, wohl aber auch mit zupackenderen, rockigeren Passagen.


Stand von Anfang an fest, dass ihr ein Album um das Thema Winter und den entsprechenden Farben und Formen schreiben wolltet oder gab es bereits Ideen und Fragmente, die diese inhaltliche Richtung vorzeichneten?

Es war tatsächlich erst das Thema dar. Die Idee des Jahreszeiten-Zyklus hatten wir ja schon länger. Mit der Entscheidung, den "Summerland"-Nachfolger "Leap into Fall" zu nennen, war ja klar, dass wir uns mit dem nächsten Album dem Winter widmen würde. Damit war vor dem ersten Ton, den wir für das neue Album gespielt haben, klar, welche Grundstimmung es haben solte.


In den Credits steht “all songs by Poor Genetic Material”. Schreibt ihr wirklich alles zusammen oder wie hat man sich die Arbeitsweise bei Poor Genetic Material vorzustellen?

Das Grundgerüst kommt immer von Stefan und mir. Wir nehmen die Songs auch schon skizzenartig mit Gitarren, Keys und einem zunächst programmierten Grundgroove auf. Wenn das steht, kommt die Rhythmus-Abteilung, und schmeißt in der Regel unsere Rhythmus-Grundideen komplett über Bord. Das heißt natürlich, dass auch unsere Gitarren und Keyboardparts gründlich überarbeitet werden müssen. Wenn wir dann die Songs dann zu viert instrumental eingespielt haben, kommt Phil dazu. Also ähnlich wie Genesis bei "Lamb lies down ..", wo die Band die Songs ja auch erst komplett ohne ihren Sänger eingespielt hat. Auch das führt natürlich noch einmal zu Änderungen, wenn ein z.B. ein Keyboards-Part einer Gesangslinie im Weg ist oder umgekehrt eine bestimmte Gesangsmelodie geradezu nach einer gegenläufigen Melodie schreit.


Wie gelingt dabei die Balance aus langen Instrumentalteilen und Gesangspassagen, damit quasi die beiden Gegenpole in der Band gleichberechtigt zu ihrem Recht kommen?

Tja, die Gefahr wäre ja in der Tat groß, dass der Sänger, wenn er denn erst später dazukommt, alles zudeckt. Phil hat aber ein ausgesprochen sicheres Gefühl dafür, wo Gesang hingehört und wo nicht. Es kommt auch oft genug vor, dass wir in einer Passage Gesang vorgesehen haben, Phil dann aber sagt "Lasst das mal wie es ist - an der Stelle braucht es keinen Gesang."


Wie wichtig sind die Texte und was entsteht zuerst: die Musik oder eine inhaltliche, textliche Idee, der Titel eines Songs?

Wir sind natürlich weder Polit-Progger, noch haben wir wie Neal Morse eine Botschaft zu verkünden. Dennoch sind die Texte gleichberechtigter Teil des Ganzen. Gerade auf "Winter's Edge" ist die Winter-Atmosphäre oft noch stärker in den Texten als in der Musik. Was entsteht zuerst? Mal so, mal so. "Sharp Bends .." ist ein uralter Text, der leicht modifiziert hier endlich Verwendung fand. Auf der anderen Seite hatte das Titelstück bis zwei Tage vor den Gesangsaufnahmen noch überhaupt keinen Text. Da gab es nur eine Grundidee, aber tatsächlich noch nicht eine Zeile.


Wie beurteilt ihr die Entwicklung bzw. wo siehst Du grundlegende Änderungen zwischen “Leap into Fall” und “Winter’s Edge”?

Für mich ist "Winter's Edge" organischer, gewachsener als "Leap into Fall", welches vielleicht ein wenig kopflastig war. Nach "Summerland" haben wir oft gehört "Tolle Musik, aber ist kein Prog." Also haben wir gesagt "Wartet! Euch zeigen wir, dass wir ein Prog-Album machen können." Das ging ein wenig auf Kosten der atmosphärischen Passagen, die aber einfach zu unserer Musik gehören. Bei "Winter's Edge" wollten und mussten wir niemandem mehr irgendwas beweisen. Auch ist für mich die Einheit Musik - Texte - Artwork schlüssiger.


Inwieweit seit ihr empfänglich für Kritik und Lob bei den Rezensionen zu euren CDs? Haben sie einen Einfluss auf eure Entwicklung oder seht ihr es mehr als Reflektion eurer Musik?

Man liest Kritik natürlich aufmerksamer als Lob. Denn man will als Band ja immer besser werden und erhofft sich daraus konkrete Hinweise. Inwieweit es dann wirklich Einfluss auf die Musik hat, hängt in erster Linie davon ab, WER es sagt. Es gibt ja unter den Reviewern durchaus ein paar Wichtigtuer, deren Ergüsse man nicht wirklich ernst nehmen kann (unabhängig davon, ob sie unsere Musik mögen oder nicht). Andererseits gibt es gerade in der Prog-Szene in Deutschland eine ganze Reihe von Schreibern, an deren Urteil mir sehr viel gelegen ist. Konkret waren es zwei Reviews von "Leap into Fall", die uns angeregt haben, die atmosphärischen Passagen wieder stärker in unsere Musik zu integrieren. "Leap into Fall" hatte ja ausgesprochen gute Besprechungen gekriegt, diese beiden bemängelten aber, dass dem Ganzen etwas fehle, es einen nicht so berühre wie "Summerland". Da fingen wir dann an nachzudenken ...


Wie läuft es generell mit den Verkaufszahlen bzw. werden die Produktionskosten einigermaßen wieder ausgeglichen? Und wohin verkauft ihr die meisten CDs?

Wir sind zufrieden. Gerade gestern habe ich mir einen Ferrari bestellt ;-) Nein, im Ernst. Wir sind wirklich zufrieden. Die Produktionskosten wurden bislang immer wieder eingespielt, es ist auch noch ein bisschen was übrig geblieben, was wir dann in die jeweils nächste Produktion stecken konnten, so dass die von Mal zu Mal etwas besser wurde. Die meisten CDs verkaufen wir schon noch in Deutschland, was aber in erster Linie daran liegt, dass wir hier den besten Vertrieb haben. "Leap into Fall" hat uns aber diesbezüglich ein paar Türen geöffnet, so dass die Erstpressung von "Winter's Edge" zum Release-Date durch Bestellungen aus dem Ausland schon praktisch weg war.


Kristian Selm © Progressive Newsletter 2003