Interview
(Progressive Newsletter Nr.41 09/02)
Ausschnitte eines Interviews mit Oliver Philipps (Gesang, Gitarre, Klavier, Keyboards)
Eigentlich haben wir überhaupt keine Arbeitsweise, wir nehmen's immer so, wie es gerade kommt. Diesmal war es so, dass sich in den letzten zwei Jahren, teilweise sicher auch bedingt durch die vielen Produktionen, die Moschus und ich mit anderen Bands gemacht hatten, so viele Ideen angesammelt hatten, dass wir auch 4 Platten hätten machen können. Normalerweise gehe ich dann beim Ausarbeiten der Songs so vor, dass ich eine komplette Vorproduktion aller Songs mache, inkl. sämtlichen Instrumenten, und von dieser Vorlage gehen wir dann aus. Herumjammen im Proberaum u. ä. machen wir schon seit vielen Jahren nicht mehr, es geht so einfach wesentlich besser und leichter.
Mit “Flesh” kommt im Herbst gleich euer nächstes Album heraus, welches parallel zu “Bridge” entstand. Mascot Records veröffentlicht aus Marketing-technischen Gründen die Alben getrennt. War ursprünglich in den Planungen auch über die Idee einer Doppel CD nachgedacht worden oder sollten beide Alben von Anfang an separat gesehen werden, da dazu beide Alben stilistisch / inhaltlich zu verschieden sind?
Eine Doppel-CD war zu keiner Zeit geplant, allerdings waren wir davon ausgegangen, dass beide Alben gleichzeitig erscheinen würden. "Flesh" ist deutlich ruhiger als "Bridge", und verwendet wesentlich mehr Orchestrierungen, klingt im Ganzen sicher "epischer". Auf dem Album gibt es eine Reihe von Gästen, eine Cellistin, ein Streich-Quartett, und eine Gastsängerin; es klingt zwar nach wie vor natürlich nach Everon, fällt aber schon etwas aus dem Rahmen. Manche Leute werden es mit Sicherheit die beste Platte finden, die wir je gemacht haben, aber es wird sicher auch Leute geben, die eher wenig damit anfangen können. Daher haben wir lieber zwei einzelne Alben gemacht, jeder soll für sich selbst entscheiden, ob er beide Platten haben will oder nicht, wir wollen niemanden mit einer Doppel-CD nötigen, evtl. ein Album zu kaufen, dass er eigentlich gar nicht haben will.
Auch “Bridge” enthält wieder diese typische Everon Mischung aus Bombast, guten Melodien, ruhigen Parts und komplexen Instrumentalteilen. Entsteht diese Mischung von ganz alleine, ganz natürlich oder gibt es beim Komponieren im Hintergrund so etwas wie eine mehr oder wenige unterschwellige Eigenkontrolle, einen „Masterplan“ das Album ausgewogen zu gestalten?
Nee, einen Plan gibt's grundsätzlich nie, die Songs entstehen halt einfach so, wir schrauben da nicht viel dran herum. "Songwriting" ist eh die einfachste Sache der Welt, im Prinzip liegt die ganze Kunst darin, nichts zu tun, man denkt sich ja nichts aus, sondern es fällt einem ein, das ist ein großer Unterschied. Was Inspiration nun eigentlich ist oder woher sie kommt, weiß im Prinzip kein Mensch, man kann es weder erzwingen noch steuern, und nach meiner Erfahrungen gibt es die besten Ergebnisse, wenn man es auch gar nicht erst versucht. Ein guter Song schreibt sich mehr oder weniger von allein. Worauf wir allerdings am Ende großen Wert legen, ist, innerhalb eines Albums eine gute Balance von Songs zu finden, so dass es beim Hören so etwas wie eine kleine musikalische Reise ist und ein Album auch spannend bleibt, wenn man es schon hundert Mal gehört hat. Wir decken mit unserer Musik ein weites Spektrum ab, es gibt sehr harte und aggressive Nummern, aber auch sehr ruhige, melodische, manchmal sogar etwas sentimentale Songs. Ebenso gibt es recht komplexe, "progressive" Lieder, aber auch sehr einfache und leicht zugängliche. Alles sind Seiten, die zu Everon gehören und die wir gleichermaßen mögen, also sollen sie nach Möglichkeit auch auf jedem Album in einer ausgewogenen und schlüssigen Mischung zueinander stehen.

Gibt es so etwa wie einen Lieblingssong auf „Bridge“, auf den Du besonders stolz bist?
In einigen Songs habe ich bei den Gesangsaufnahmen ein bisschen experimentiert, speziell mit gothic-ähnlichen, sehr tiefen Vocals, so was habe ich in der Vergangenheit nie probiert. Mit dem Resultat bin ich eigentlich sehr glücklich, ich hatte nicht unbedingt erwartet, dass das in der Praxis so gut funktionieren würde, und über diese Songs freue ich mich im Nachhinein deshalb am meisten (“Not this time”, “Bridge”). Aber in großen und ganzen bin ich rundum zufrieden, jeder Song hat seine Berechtigung auf dem Album, und ich würde keinen auslassen wollen.
Wie entstand die Idee als Schluss von „Juliet“ einen kräftigen Grunzer” von Ancient Rites Frontmann Gunter Theys zu verwenden?
Es bot sich einfach musikalisch an, war eine spontane Idee. Wir haben mit Gunter in der Vergangenheit oft gearbeitet, Moschus und ich haben die zwei letzten Ancient Rites Album “Fatherland” / “Dim Carcosa” und auch das letzte Album von Danse Macabre, wo er ebenfalls singt, produziert, und sind daher gut mit Gunter befreundet. Nachdem er mich auf dem letzten AR-Album genötigt hat, einen Teil auf Flämisch zu singen, war's nur recht und billig, dass er diesmal etwas auf unserer Platte singen musste :-)
Durch Euer eigenes Studio habt ihr natürlich viel mehr Möglichkeiten und Zeit Dinge auszuprobieren und zu verfeinern. Inwieweit ist es von Vorteil im eigenen Studio fast ohne Kostendruck arbeiten zu können bzw. besteht dabei nicht auch manchmal die Gefahr manches zu lange auszufeilen, Dinge eventuell zu überproduzieren?
Das Gegenteil ist der Fall, aber dem Irrtum sind schon viele vor Dir verfallen. Komischerweise glaubt immer jeder, wenn man ein eigenes Studio hätte, könnte man "ohne Kostendruck" dort arbeiten, aber wenn man mal ein bisschen nachdenkt, sollte jedem einleuchten, dass das kompletter Unfug ist. Das Studio ist für Moschus und mich unser Beruf, und somit auch unsere Haupt-Einnahmequelle. Wenn wir Everon machen, bekommen wir dafür genau so ein Budget von unserer Plattenfirma, wie jede andere Band, die ein Label zu uns schickt, auch zur Verfügung hat. Und mit diesem Geld müssen wir dann halt auch klarkommen. Natürlich können wir den Laden ein Jahr lang dicht machen und uns nur mit Everon befassen. Hinterher können wir dann allerdings zum Sozialamt gehen, weil wir a) in dieser Zeit kein Geld verdienen und b) alle Kosten, die so ein Studio nun mal verursacht, natürlich weiterlaufen. Im Prinzip müssen wir als Studiobetreiber eine Everon-Produktion genauso kalkulieren und behandeln, wie eine Fremdproduktion, wirtschaftlich besteht dazwischen keinerlei Unterschied. Wenn wir uns mit Everon manchmal doch etwas mehr Zeit lassen, was tatsächlich manchmal nötig ist, weil unsere Musik halt enorm aufwendig ist, und speziell bei "Flesh" durch die Streicherbesetzungen etc. eine Menge Mehrarbeit angefallen ist, geht das letztlich finanziell auf unsere Kappe, weshalb wir auch traditionell am Ende jeder Everon-Produktion einen Fingerbreit vom Bankrott entfernt sind. Die Wahrheit ist also, dass der Kostendruck sogar deutlich höher ist, als wenn wir einfach in ein fremdes Studio gehen würden, die entspanntesten Produktionen für uns waren die zwei ersten, die wir damals im Woodhouse Studio gemacht haben.


In Eurem Studio produziert ihr auch andere Bands. Wirkt sich dies auch in irgendeiner Weise auf die Musik von Everon, auf neue Einflüsse für Eure Kompositionen aus?
Mit Sicherheit, das ist gar nicht zu vermeiden. Ich bin sehr dankbar dafür, mit so vielen Musikern ganz unterschiedlicher Richtung gearbeitet zu haben und es ist eine unschätzbare Inspirationsquelle für mich. In erster Linie ist es natürlich Aufgabe des Produzenten, für die jeweilige Band zu arbeiten und zu deren Musik etwas beizusteuern, aber natürlich lernt man auch selbst etwas dabei. Vor allem verliert man die Scheu vor unterschiedlichen Stilen, und kommt gar nicht erst in die Versuchung, "vereinsblind" zu werden und nie über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Es gibt tausend verschiedene Arten, Musik zu verstehen und zu spielen, "Progressive Rock" ist eine davon, aber nicht die allein-seligmachende. Und andere Musik kennen zulernen ist immer eine Bereicherung, ich würde mich ungern auf einen Stil festnageln lassen. Letztlich zählt in der Musik nur, dass sie von dem, der sie macht, ehrlich empfunden und mit Leidenschaft gespielt wird, welchem Genre sie zuzuordnen ist, ist meiner Meinung nach vollkommen uninteressant.
Ihr habt auch Euer aktuelles Album wieder von Eroc mastern lassen. Auch andere Scheiben, die er bearbeitet, zeichnen sich durch einen sehr guten Sound aus, was ebenfalls auf „Bridge“ zutrifft. Wie groß ist sein Einfluss auf den Sound der Platte bzw. was kann er klanglich noch rauskitzeln?
Ein gutes Mastering ist immer sinnvoll, und Eroc kennen wir nun schon ewig und drei Tage. Unsere ersten zwei Alben hat er damals noch produziert, und seit wir selber ein Studio haben und er sich auf Mastering spezialisiert hat, liegt es nahe, dass wir auch dabei mit ihm zusammen arbeiten, und ich halte ihn momentan in Deutschland für die erste Wahl in Sachen Mastering. Dennoch klingen unsere Platten nicht deshalb gut, weil er sie mastert, sondern weil sie vernünftig produziert sind. Wir haben auch massenhaft Alben produziert, die in anderen Studios gemastert wurden. Wenn eine Produktion gut ist, kann man ehrlicherweise beim Mastering mehr verderben als verbessern, ein gutes Mastering einer guten Produktion zeichnet sich dadurch aus, dass man das Ergebnis der Studioarbeit auch gut auf den Tonträger, der hinterher im Laden steht, rüberbekommt; es ist erschütternd, was bei diesem letzten Schritt noch kaputtgemacht werden kann, wenn man das Mastering jemandem überlässt, der seinen Job nicht versteht. Für die Klangqualität wird ein Mastering dann richtig bedeutend, wenn das Ausgangsmaterial, was aus dem Tonstudio kommt, mangelhaft ist, in solchen Fällen können Mastering-Engineers wie Eroc manchmal ein kleines Wunder bewirken, nicht umsonst gilt er auch als echte Kapazität auf dem Gebiet der Audio-Restauration. Unter dem Strich hat man aber natürlich in der Studioproduktion, wo man noch alle Signale auf einzelnen Spuren vorliegen hat, ungleich mehr Möglichkeiten der Klangbearbeitung als im Mastering, wo man nur noch auf eine Stereosumme der fertigen Mixes zugreifen kann. Wenn beispielsweise die Snare auf einer Produktion mies klingt, kann man natürlich im Mastering den Frequenzbereich, in dem sie liegt, noch bearbeiten und verändern, aber man verändert damit auch zwangsläufig jedes andere Signal, das Anteile im selben Frequenzbereich hat, auch mit, da man halt nur auf die Summe zugreift; d.h., ich verändere auch gleichzeitig mit dem Klang der Snare den Klang der Stimme, der Gitarren, etc., somit ist Klangbearbeitung im Mastering letztlich immer ein Kompromiss, man wählt halt "das kleinere übel", und je mehr Mängel im Ausgangsmaterial sind, desto mehr kann man beim Mastering verbessern. Im Idealfalle ist allerdings eine gute Produktion in sich stimmig und klanglich so, wie sie zu sein hat; beim Mastering geht es dann eher um eine leichte Korrektur der Gesamtfrequenzganges, so dass die Produktion nicht nur auf Riesen-Studiospeakern mit fetten Subwoofern, sondern auch auf Muttis Küchenradio noch gut klingt. So gesehen würde ich Eroc's Anteil am Klang der Everon-Platten nicht überbewerten, zumindest nicht, soweit es das Mastering angeht. Allerdings darf man nicht vergessen, dass er für uns so eine Art Mentor oder "väterlicher Freund ist", von dem wir eine Menge gelernt haben, das wir uns in der täglichen Studioarbeit zu Nutze machen. So gesehen ist sein Anteil am Klang aller Produktion, die im Spacelab Studio entstanden sind - und das gilt nicht nur für Everon - von entscheidender Bedeutung. Er war in vielen Dingen ein echter Pionier auf dem Gebiet des Audio-Recordings, und er selbst hat noch von Conny Plank gelernt, sein Erfahrungsschatz und die Tatsache, dass er und daran teilhaben lässt, ist für uns von unschätzbarem Wert. Auch heute fragen wir ihn noch in vielen Dingen um Rat, und er hilft auch immer gern. Wenn wir ihm allerdings auf einmal ein Everon-Album zum Mastering vorlegen würden, was so Scheisse klingt, dass er es mit allen Tricks und aller Gewalt im Mastering zurechtbiegen muss, würde er es uns höchstwahrscheinlich um die Ohren hauen, denn dann hätten wir offenbar nicht viel von dem verstanden, was er uns beizubringen versucht hat.
Für mich entsteht manchmal der Eindruck, dass gerade in Deutschland am meisten an euch herumkritisiert wird, während ihr im Ausland wesentlich offener empfangen werdet.
Kann ich nicht mal unbedingt sagen, wir haben jetzt das vierte Album nacheinander im Rockhard unter "10 X Dynamit", außer Blind Guardian hat das überhaupt noch nie eine deutsche Band gehabt. So gesehen können wir uns da eigentlich nicht beschweren, Kritik kommt in aller Regel hauptsächlich aus dem Lager der echten Proggies, denen sind wir halt manchmal nicht komplex genug, zu "poppig", oder was weiß ich denn auch. Es gibt ja unter den Progfans eine Fraktion, für die am liebsten jedes Album ein Konzeptalbum sein muss, jeder Song mind. zwei Solo, einen 7/8-Teil und möglichst noch einen Science-Fiction Geschichte als textliches Konzept haben muss. Dieses Publikum bedienen wir halt nicht, allerdings auch nicht im Ausland. Wollen wir halt auch nicht, wir verstehen uns schon irgendwie als Progressive-Band, aber wir haben alle keine Lust, Schlauberger-Mucke zu machen, und gehen völlig unintellektuell an die Musik heran. Das führt dazu, dass wir unter unseren Fans viele Leute haben, die normalerweise mit "klassischen" Progressive-Bands wie Dream Theater u.ä. absolut nichts an der Mütze haben, aber umgekehrt halt auch dazu, dass manche Hardcore-Proggies uns für verweichlichte Mainstream-Fuzzis halten. Man kann's nicht jedem Recht machen, muss man aber auch nicht.
Kristian Selm © Progressive Newsletter 2002