CD Kritik Progressive Newsletter Nr.81 (09/2014)

Machine Mass feat. Dave Liebman - Inti
(60:17, Moonjune Records, 2014)

Aus dem Machine Mass Trio wurde - Machine Mass. Die aus dem ehemaligen Trio verbliebenen Tony Bianco (dr, loops, perc, Elton Dean, Paul Dunmall, Evan Parker, douBt) und Michel Delville (g, Roland GR-09, electronics, The Wrong Object, douBt) gingen mit Dave Liebman (ss, ts, fl, Miles Davis, Elvin Jones, v.a.m.) ein neues Trio ein, als zusätzlicher Gast im einzigen Vokaltrack tritt Saba Tewelde als Sängerin auf. Die drei Instrumentalisten sind ohne Frage vielfach geübte und erfolgreiche Musiker, die überwiegend in Jazz, übergreifend in der Rockmusik aktiv sind. Der Älteste im Trio, Dave Liebman, war an der Einspielung Miles Davis' "On the corner" beteiligt und bringt damit viel Glanz in das Projekt, was dem großartigen Werk hoffentlich viel Presse und finanziellen Erfolg einbringt. Daneben müssen sich die beiden Machine-Mass-Urmitglieder indes nicht verstecken, alle Beteiligten können auf einen reichen Fundus an Alben und Konzerten verweisen. Aufgenommen wurden die 9 Tracks (60:17 Minuten Spielzeit) am 10. Oktober 2012, an einem Tag. Die Songs haben zwar reichlich improvisativen Raum sowie solistische Flächen, sind jedoch straff organisiert und solide komponiert. Auffällig ist bereits beim ersten Durchhören der zweite Track auf der CD, "Centipede". Auf flüssig-klassischem Jazzrhythmus jagt das Trio durch äußerst kurzweilige 4:41 Minuten, die Soli sind ganz außerordentlich, die Spannung der knackigen Komposition bleibt jede Sekunde erhalten. Besonderes Merkmal ist der Rhythmus: in den anderen Tracks spielt Tony Bianco seinen unverwechselbaren, zerhackten Jazzpop-Groove, der einerseits sehr eingängig, anderseits sehr arbeitsintensiv ist und die Takte schräg anfräst. Die Saxophonsoli Liebmans sind fest geerdet, sehr locker und frei gespielt, von hoher Kreativität und versiertem Solodenken. Liebman lässt seinen Fingern freien Lauf, weiß den Fluss gut und interessant zu steuern und hat zahllose Ideen und Abstraktionsmöglichkeiten in petto. Geübter Handwerker, kreativer Geist, Jazzdenker seit zahllosen Jahren ist sein Input quasi unbezahlbar. Ebenso besonders, mit eigener Handschrift und kernig-kraftvollem Ton spielt Michel Delville, dessen Soli die ganz besondere Note des Projektes sind, meiner Meinung nach die Basis und herausragende Arbeit des Trios. Seine Gitarrensounds sind vielfältig, oftmals Jazztrunken und Rockhart zugleich, zeigen seine persönliche Inspiration, die Handschrift Frank Zappas - in eigener Intention und in melodischer Hinsicht sehr abstrahierte, fast neumusikalisch avantgardistische Kreation. Zwar sind die Songs auf "Inti" nicht orientiert, lediglich Basis für Soli zu sein, die von Saxophonen, Gitarre und Schlagzeug geleistet werden - es passiert viel mehr. Doch wenn die Solisten an ihren Stamminstrumenten zu krassen, kernigen und grandios abstrakten Soli ansetzen, ist das Zuhören der ganz besondere Genuss. Daneben werden, wie etwa in Joe Zawinuls "In a silent way"" (die einzige Coverarbeit) psychedelische Muster freigesetzt, die ganz den Zeitgeist der Spätsechziger tragen, als Jazz und Rock in ersten Verflechtungen progressive Früchte trugen. Verrückte elektronische Ideen werden ausgebaut, auf Jazzpop-Groove, der die Songs eingängig und nachvollziehbar macht. Der Kontrast zwischen abstrakten Kompositionen, krassen, heftigen Improvisationen und freitonaler Soloarbeit auf der einen und dem Schlagzeuggehoppel Tony Biancos auf der anderen Seite sind ein ausgefallenes Markenzeichen des Machine Mass (Trios). So ist die Musik zwar enorm komplex, voll vielfacher Stile, Farben und Nuancen, findet seine Erdung über aller kompositorischen Extravaganz und interpretatorischen Exegese aber stets im Rhythmus, der - weitaus eingängiger und massiger - gewiss gar im HipHop funktionieren wird. Die Jazzballade "The secret place" sticht als dritter Song nach "Centipede" und "In a silent way" besonders hervor. Elektronische Vibraphonsounds, Gitarre, Electronics und Loops samt sanfter Perkussion bauen ätherische Atmosphäre, die in zarten Fluss gerät. Nach anderthalb Minuten erhebt Saba Tewelde ihre Stimme und der Zuhörer wähnt sich nicht nur in einer völlig anderen Musik, noch gleich einer anderen Welt. Diese Stimme hat Magie und Wärme, stilles Vibrato und enorm Kraft und Dynamik. Schade, dass kein Bild der Dame im Booklet abgedruckt ist: das Auge hört mit. Noch balladesk beginnt der mit Abstand längste Song des Albums. In 12:46 Minuten wird "Elisabeth" aufgebaut, auseinandergenommen, neu gefügt, seziert, solistisch mit neuem Leben versehen und im schrägen Bandinterplay auf weite Exkursionen geschickt. Das Stück allein ist die CD wert. Wie sich hier die Magie entwickelt, ist schlicht genial. Ähnlich waren 2002 die aufgelösten Random Touch aktiv ("Hammering on moonlight"). Machine Mass haben ihre eigene Intention, virtuos lebhafte Nervösfrickeljazzpsychedelic auf enormem Spannungsniveau zu zelebrieren. Selbst wenn die Nervosität zurückgefahren wird, bleibt die Spannung stets erhalten. Und hört euch die Soloarbeit Michel Delvilles an. DAS ist Musik! Das wiederum instrumentale "Voice" zuletzt setzt auf eingängigen Jazzrhythmus, markante elektronische Struktur, flüssig elegante Saxophonarbeit und weit ins Off gemixte harte Gitarrensounds. 60 Minuten? Kurz gefühlte Stunde. Tipp!

Volkmar Mantei



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