CD Kritik Progressive Newsletter Nr.81 (09/2014)

Clive Stevens & Friends - Atmospheres
(40:08, ESC Records, 1974)

Pressetext: Was waren das für tolle Zeiten, damals, als Miles Davis mit "Bitches brew" auch in Rockzirkeln wie eine Bombe einschlug, als John McLaughlin sein Mahavishnu Orchestra installierte, Joe Zawinul und Wayne Shorter mit Weather Report eine der wohl einflussreichsten Formationen des Jazz gründeten, Chick Corea mit seinen Return To Forever zu Höhenflügen abhob. In diesen Zeiten veröffentlichte fast unbemerkt auch der englische Musiker / Multiinstrumentalist Clive Stevens zwei kleine Meisterwerke. Clive Stevens war Mitglied von Manfred Mann's Chapter Three, bevor er die Formation Caparius gründete. Caparius war zu Beginn der 70er Jahre neben Soft Machine einer der Geheimtipps der aufblühenden neuen englischen Jazz- und Rockszene. Caparius bestand neben Stevens aus dem Gitarristen Peter Martin, dem Bassisten Neville Whitehead, Drummer Phil Howard (der nach Robert Wyatts Ausstieg bei Soft Machine einstieg), dem Tastenspieler Dave McRae und dem Gitarristen Gary Boyle (er ersetzte Peter Martin). Die Band löste sich leider viel zu früh auf. Stevens wandere in die Staaten aus, sein Glück zu finden. Caparius' Aufnahmen wurden leider nie veröffentlicht. Die legendären Sessions zu "Atmospheres" wurden an einem Tag in den Mayfair Recording Studios in New York im Februar 1972 eingespielt, ganz ohne große Proben. Unter Clive Stevens' Regie entstand mit "Atmospheres" ein athmosphärisches Etwas, kaum beschreibbar in der kongenialen musikalischen Umsetzung durch John Abercrombie (guitar), Steve Khan (guitar), Ralph Towner (electric piano), Rick Laird (bass) und Billy Cobham (drums) zu einem künstlerischen Klangerlebnis, wie man es zu dieser Zeit ganz selten erlebt hatte. Aus Stevens' Kompositionen wurden wilde Versionen zwischen modalem Jazz und experimentellem Rock, entstand eine Musik, die man durchaus als "aufregend" bezeichnen konnte. "Atmospheres" ist nun erstmals nach 40 Jahren auf CD erhältlich. Soweit der grammatikalisch kreative Pressetext. Mal abgesehen davon, dass das Klangerlebnis auf "Atmospheres" im Jahr 1972 keinen seltenen, sondern aktuell vielfach gespielten Jazzrock enthält, kann der Text so fast gelten. Der heutige Mainstream-Zeitgeist, der weitgehend insgesamt kaum nachvollziehen kann, warum die in den Siebzigern so einen lauten Krach gemacht haben und selbst Heavy Metal in kuschelweiche Sounds verpackt, dass kein Ohr gestresst und kein Hirn herausgefordert werde, wird "Atmospheres" absolut nicht nachvollziehen können. Aber da sind noch ein paar wache Jazz- und Rockfreaks, die krassen Lärm, abgefahrenen experimentellen Sound und leidenschaftliche Ekstase suchen - und für genau diese Kenner ist der Sound gemacht und kein Stück altbacken. Bevor die ECM-Tablette Jazzmusiker wie Ralph Towner stilllegte und im Zuge der Entradikalisierung Jazz und Rock in gemächlich uninteressante Kanalbetten abführte, stürzten gefährliche Wildwasser wie "Atmospheres" durch die Jazz- und Rockszene. Dem Mahavishnu Orchestra (auch personell) (entfernt) verwandt, weitaus jazzlastiger und ordentlich krachlaut dröhnt und rockt der abgefahren wilde Jazz deftig. Die Rhythmuscrew arbeitet wie verrückt, spielt laut und zerhackt die Takte elegant und kraftvoll, arbeitet im melodischen Raum gleichberechtigt mit den Melodie-Instrumenten und ist längst nicht auf Basisunterstützung reduziert. Tasten und Gitarre machen den tonalen Raum farbig und lebhaft, fügen der führenden melodischen Schicht allerhand weitere Schichten hinzu und bauen samt Rhythmuscrew den Raum, auf dem sich Bläser Clive Stevens luftintensiv austobt. 6 Songs sind auf der 40:08 Minuten langen CD. Zwischen 5:32 und 9:24 Minuten toben sich Clive Stevens Kompositionen aus. Stilistisch hält sich das Projekt weitaus tiefer im Jazz als im Rock auf, allerdings arbeiten die Jazzer wie extrawilde Rocker, lauter, schräger, ekstatischer und komplexer als die überwiegende Anzahl Rockmusiker / Bands. Da sind keine songdienlichen Elemente, selbst die Grundthemen der Tracks sind kaum eingängig (für Mainstream-Ohren), Spezialisten nehmen die in manchen Passagen auftretenden dezenten Blues-Muster wahr, die sich nicht nur nicht durchsetzen, sondern die Arrangements nicht bestimmen, und selbst in Soli nichts zu sagen haben. John Abercrombie und Steve Khan ackern hier weitaus rocklastiger und mit schneidenderen, härteren Sounds als üblich, Billy Cobham arbeitet Mahavishnu-typisch als sei er der Urvater des Heavy Metal und Ralph Towner dröhnt krasse Jazzdisharmonien, die im kompletten Bandkontext reichlich farbig aufgehen. Wenn selbst balladeske Strecken kaum still oder lieblich wirken, ist der Ansatz der Band im krassen, experimentellen, progressiven Jazzrock großartig aufgegangen. Weder wird es fad noch lieblich, wenn nachdenkliche Themen gespielt werden. Klangtechnisch ist festzustellen, dass die Aufnahmen eine etwas dumpfe Note haben, die allerdings nicht nachdenklich wirkt, sondern authentisch, so klangen viele Bands damals. Das Schlagzeug (Basstrommel) ist vielleicht etwas zu muffig, ansonsten ist die Tiefe ganz gut hinnehmbar. Sobald die komplette Band zu Lautstärke ansetzt, schwingen einige Schleifer mit, heutige Studios lassen so etwas nicht zu. Auch hier gilt, so etwas gab es damals mehrfach. Stevens' Saxophon überpegelt hin und wieder und ist über die Band gestellt, das gilt für alle Soloinstrumente, wenn sie an der Reihe sind. Da gerade die Sopranhöhen sehr hoch geraten können, werden empfindliche Ohren schon mal erschreckende Tonalangriffe erleben. Insgesamt gilt: guter Altsound. Coole Songs, bisweilen sehr freakig wild, partiell Free Jazzrock, schön abgefahren, leidenschaftlich und LAUT. Gute Ergänzung für die abgefahrene Jazz(Rock)-Sammlung.

Volkmar Mantei



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