CD Kritik Progressive Newsletter Nr.80 (04/2014)

Tatvamasi - Parts of the entirety
(62:37, Cuneiform Records, 2013)

Das Label Cuneiform steht für einen ganz besonderen musikalischen Charakter. Stilistisch nicht festgelegt, eher in der künstlerischen Intention, sammeln sich dort Bands / Projekte und Musiker, die aus dem Großraum Jazz / Folk / Progressive Rock / Avantgarde / Electronic expressive Musik filtern und in ungewöhnliche, krasse und extravagante Songs kleiden. Und wie die Jahre nach frühen Soft Machine vergangen sind, wandelten sich stilistische Varianten und Genrevorlieben der Szene, die sich gern außerhalb des Mainstreams sieht. Cuneiform lieferte den Soundtrack für Musikspezialisten zwischen Underground und Avantgarde im (mehr oder weniger) populären Bereich seit den 1980ern und vollzog dabei selbst so manche Wandlung. Wie sagte es einst Ray Davies (The Kinks): "rock bands are come, rock bands are gone, but rock'n roll will go on forever", und so ist es im Jazz. Bands kommen und gehen, die Musik selbst hat kein Ende. Und immer wieder neuen Anfang. Tatvamasi kommen aus Polen und sind ein krasser Bastard aus Jazz und Rock, der zwischen straffem Rockrhythmus mit sattem Groove und komplexen Taktarten sowie strengmelodischem Jazz abgefahrene Songs kreiert, die ausgedehnt lang genug sind, die Kernthemen weit auszuführen. Während Lukasz Downar (b) und Krysztof Redas (dr) die erlesene Rhythmuscrew sind, die selbst im melodischen Spektrum mitarbeiten, den satten, jazzinfizierten Rockrhythmus knackfrisch und differenziert locker halten, gestalten Grzegorz Lesiak (g) und Tomasz Piatek (ts) das melodische Geschehen, knien sich tief in ihre Kompositionen ein, wiederholen fast stetig minimalistisch verschiedene Phrasen und wandern von dort aus in improvisatives Dickicht, in dem sich lange Soli ergeben können, die das Bandinterplay zu pausenlos dynamischer Arbeit herausfordern, um an bestimmten Punkten die Themen fallenzulassen, an die Basis zurückzukehren, und erneut aufzubrechen. Während Tenorsaxophonist Tomasz Redas neben erstaunlich sanften, lyrischen Partien sehr krass abfahren kann, bleiben die Gitarrenattacken von Greg Lesiak zurückhaltend. Im Ton ein Rocker ist er im Herzen Jazzer, der raue, dunkle Töne liebt, klangtechnisch mit Fußpedalen arbeitet, hier und da dezente, abstrahierte Blueseinflüsse zulässt und selbst in harschen Attacken nicht zu voller Ekstase aufbricht, immer etwas zurückhaltend bleibt. Mal angenommen, seine Persönlichkeit ließe brutale Wildheit zu - hörte viel mehr süchtiges Publikum zu. Da seine technisch erlesene Arbeit in aller Rasanz und Rauheit jedoch (fast) leise bleibt und keine atonalen Attacken oder krassen Extreme auffährt, bleibt der Eindruck seiner Arbeit jazzlastig und vermittelt eher ein intellektuelles als ein avantgardistisches Bild. Die Kompositionen stammen aus der Feder des Gitarristen. In der Band ausgearbeitet, sind die Arrangements sperrig und komplex, abstrakt und anspruchsvoll, sehr jazzbezogen und von improvisativen Schüben durchzogen, deren Saxophonattacken den klarsten, technisch reifsten und sichersten Eindruck machen. Wenn im Sound auch erhebliche Rockanteile leben, so sind Tatvamasi doch gut erkennbar Jazzmusiker, die genau wissen, wie der avantgardistische Zeitgeistsound klingt und wie man ihn kernig und lebhaft ausbaut. Empfehlenswert ist "Parts of the entirety" vor allem für Jazzenthusiasten und Fans, die zwischen Jazz und Rock wildern, ohne zu nahe am aktuellen Prog-Sound zu kleben. Leichte Muse findet in dieser vollen Stunde nicht statt.

Volkmar Mantei



© Progressive Newsletter 2014