CD Kritik Progressive Newsletter Nr.7 (02/1996)
Leger De Main - The concept of our reality
(45:08, PMM, 1995)
Als erstes nach dem Blick auf der Frontseite blieb ich beim Anschauen der Musiker auf der Rückseite hängen. Melissa Blair als Sängerin und die Brüder Chris (Gitarre, Bass und Keyboards) und Brett Rodler (Schlagzeug) erweckten beim Anblick der längeren Haare und dunklen Kleidung die Hoffnung, dass es sich bei Leger De Main um eine metallische Prog Gruppe handelt. Und ich wurde nicht enttäuscht, mehr noch, die Überraschung über deren musikalischen Fähigkeiten übertrafen meine Erwartungen. Endlich wieder mal richtiger Prog Metal, der den Zusatz Prog im Namen wirklich verdient und nicht nur als schmückendes Beiwerk mit nur teilweise echtem Anspruch geführt wird. Sängerin Melissa hat keine typische Heavy Kreischstimme, sondern bewegt sich in verträglicher Tonlage. "To live the truth" beginnt mit Keyboards, dem eine Tempoforcierung folgt, um recht plötzlich in einen absolut komplexen Zwischenteil überzugehen. Sehr abwechslungsreiches Schlagzeug, harte Gitarrenriffs, wobei mit als Vergleich nur eine vielzitierte Gruppe einfällt, deren Namen ich kaum noch zu erwähnen wage. Jedoch ist dieses Intermezzo nicht ganz so schwermetallisch, wie zuletzt bei deren "Awake". Trotzdem: einfach gigantisch, obergenial, das ist genau die Art von Musik, auf die ich stehe. Gesangspassagen werden immer wieder kurze komplexe Zwischenspiele eingestreut, einmal mit Keyboards, dann Gitarre, erinnert weitläufig an Rush aus Anfang der 80er Jahre. Beim folgenden "Crystal fortune" geht es etwa bombastischer zu, auch ist der melodische Anteil unschwer höher und die Komplexität wird gegenüber der Entwicklung des Liedes etwas zurückgefahren. "Immobile time" ist mit rund vier Minuten das kürzeste, aber auch das schwächste Lied, da hier der Gesang nicht mehr so angenehm im Hintergrund bleibt, sondern ihm leicht übertriebener Pathos verliehen wird. Insgesamt guter Durchschnitt, den man aufgrund der Komposition noch verschmerzen kann. Es folgt der fast zwanzigminütige Longsong "Enter quietly". Ein zu Beginn teils virtuoses, teils spannend aufgebautes Akustikgitarrensolo mit flötenähnlichen Keyboardsprenklern, die damit diesen Liedteil definitiv keine Zuordnung zum Hard Rock oder Heavy Bereich zulassen. Danach Gesang untermalt von rhythmisch vertrackten Strukturen, mal etwas mehr Bass, dann wieder Keyboards, hauptsächlich aber Gitarre. Die häufigen Breaks fließen gekonnt natürlich ineinander über, ohne holprig oder aufgesetzt zu wirken. Zwischendurch wird es auch mal akustisch ruhig: schöner Gesang, Keyboardteppiche einschließlich toller Gitarrenparts. Zum Ende noch ein versöhnlicher Pianoausklang. "Distorted pictures" zum Abschluss beginnt nicht mehr so überladen, um jedoch danach einige Abwechslung zu bieten. Nach viel zu kurzen 45 Minuten beschließt ein etwas wirres Durcheinander das Werk. Die drei Amis sind absolut keine zweiten Dream Theater, vielmehr haben sie ihren eigenen Stil im anspruchsvollen und komplexen Prog Metal gefunden. Komplexer als Shadow Gallery, nicht so komplex wie Magellan, sind Leger De Main dazwischen anzusiedeln und es bleibt zu hoffen, dass das nächste Werk genauso gut sein wird.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 1996