CD Kritik Progressive Newsletter Nr.79 (12/2013)
I Know You Well Miss Clara - Charter One
(63:54, Moonjune Records, 2013)
Der Bandname könnte gar als Drohung verstanden sein. Doch einmal die 7 Songs und 63:54 Minuten umfassende CD durchgehört ist klar, dass dies eher eine Liebeserklärung mit charmantem Witz ist. Zudem: die sieben kalten Fische auf dem Cover können dem polierten Blondschopf trotz großer Dichte nix anhaben. Sind doch allesamt tot! Und die Dame aus Wachs und Farbe zeigt keine Anzeichen von Angst. Alles gut. Und schöner Rahmen! Die Indonesier Alfiah Akbar (dr), Adi Wijaya (keys), Reza Ryan (g) und Enriko Gultom (b) arbeiten auf esoterisch-ethnische Weise am Jazzrock-Erbe des Mahavishnu Orchestra. Keyboarder Ai Wijaya treibt sich bisweilen etwas lange im verspielten Off herum, doch wenn die Band zum Zuge kommt, geht es zügig voran. Dabei sind IKYWMC stark jazzbetont und haben so ihre Eigenart, keiner anderen Band stilistisch zu nahe zu sein. Da sind einige Extravaganzen, die für europäische Ohren ungewöhnlich sind: metallische Gitarreneskapaden auf elektronischer Jazzbasis, genannte Keyboardspielereien, lange Instrumentalpassagen, deren Struktur weit aufgefächert ist, in denen aber nur scheinbar nichts passiert, sondern seltsame Melodie-Experimente aus zappaeskem Gitarrensolo ganze Chaosorgien basteln. Die ganze Band zusammen, versteht sich. Die Songs beginnen leise, verspielt, fast, als müssten sie sich erst finden. Zerstreute Professoren, die erst wach werden, wenn die Struktur ihres eigenen Spiels sie mitreißt. Doch nichts ist verschenkt. Aus dem seltsamsten Motiv wälzt sich aus plötzlichem Bruch ungeahnte Idee. Auf der rhythmischen Jazzbasis, die gut geölt und tatkräftig ackert, bricht aus leiser Harmonie kerniger Rock, nur um gleich wieder zu versacken. Und neu anzufangen. Die Arrangements sind nicht geglättet, nicht 'harmonisiert', nicht europäisiert. Schön ausgefallen und überraschungsreich geht "Chapter One" in seinen vielen Teilen ab. Immer wieder trifft die Band auf Frühsiebziger Jazzrock, den sie mal avantgardisiert, mal mit Funk unterhebt, dann in elektrischen Jazz schiebt oder ins Mahavishnu-Kleid bringt. So facettenreich die Band arbeitet, so lassen sich die Extravaganzen verstehen: ein plötzlicher Einbruch, die Band macht Pause und Mr. Guitar pflegt Jazz Metal ganz ohne Struktur. Gitarrist Reza Ryan ist Chefkomponist der IKYWMC, hier und da von Bandmembers unterstützt. Wie, frage ich mich, hat er sein Konzept, seine Ideen kommuniziert, dass das Quartett schließlich wusste, wie der Laden laufen soll!?! Technisch gesehen weiß die Band locker und virtuos mit ihren Instrumenten umzugehen. Und doch gibt es Aussetzer, nicht nur, was die seltsamen Arrangements betrifft. So sind manche Intros, obschon von melancholischem Flair und harmonischem Gehalt, eher überflüssig, und die Einspielung wirkt fast fad. Was die Gitarrenextravaganzen betrifft, meine ich zu ahnen, dass Reza Ryan und die Band noch zu spielwütig sind und alle Extreme ausleben wollen, derer sie eigengedanklich habhaft werden, um zu zeigen, was ihre progressive Idee ist und dass sie gewiss nicht unter Massen zu finden sind. Manche Straffung / Weglassung hätte das Arrangement forciert und für mehr Druck und knackige Konzentration gesorgt. Das abschließende Stück heißt "A dancing girl from the Planet Marsavishnu named After The Love" und kommt tief aus dem McLaughlin-Inspirationspool wie so manche Idee auf "Chapter One" zuvor. Auch hier gibt es eine gewisse Verspieltheit und Schwerfälligkeit. Doch: die Band hat das gesamte Album in just 18 Stunden eingespielt, spontan. Die meisten verwendeten Aufnahmen sind die ersten oder zweiten Takes. Auf dem Cover angegebene (weitere) Einflüsse: Canterbury Bands. Und Moonjune-Labelchef Leonardo Pavkovic meinte im ersten Gespräch mit Reza, in seinem Spiel an frühe Focus und Jan Akkerman erinnert zu werden. Was mir selbst in diesen Aufnahmen so nicht erkennbar ist. Die wuchtige Saxophon-Arbeit in den letzten beiden Songs lieferte Gast Nicholas Combe. 2012 (in Jakarta, Indonesien) aufgenommen, ist dies das erste CD-Lebenszeichen der noch unverfälschten jungen Band. Dass hier sehr viel Potential ist, handwerklich wie kompositorisch, spricht für die Zukunft der Kenner von Fräulein Clara.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2013