CD Kritik Progressive Newsletter Nr.77 (03/2013)
Scherzoo - 02
(51:17, Soleil Zeuhl, 2012)
Auf dem 2012er Freakshow Artrock Festival in Würzburg waren die sympathischen, lockeren und zurückhaltenden Franzosen kennenzulernen. Sie sahen und hörten sich die Konzerte der anderen Bands an, waren zum Schwatzen und Trinken aufgelegt und tanzten nach Ende des Festivals im Immerhin zu Charlies wüsten Freakshow Discoklängen in der totally ausgeflippten Meute. Scherzoos Konzert auf dem Festival war, wie ich meine, das Gegenstück zu den Klangexpressionisten von Guillaume Perret's Electric Epic. Wo diese wie wild ackern und den Kopf mit Sturm wegblasen, basteln Scherzoo impressionistische Songs, introvertiert, schwer komplex und jazztrunken, ihre Vitalität in schwermütige Orgien verpackend, technisch brillant und oftmals leise und sanftmütig - indes, kaum haben beide Bands sonst weitere stilistische Nähe als Jazzrock und Zeuhl als Basis. Die Kompositionen von Bandchef Anthony Béard (b) haben einen starken Hang zum französischen Jazzrock der Siebziger, wollen entdeckt und entschlüsselt werden - und sind ihre Herausforderung unbedingt wert. Das Freakshow Konzert zeigte die Band nicht ganz entspannt und nach den jungen Wilden von sht.g.n von eher stiller Seite. Auf der CD legen sie indes ganz anders los. Zwar gibt es hier auch lyrische, verkopfte und vor Komplexität überaus anspruchsvolle Partien, die aber deutlich kraftvoller und stärker wirken als im Konzert - verblüffend, zumeist ist das anders herum. Vielleicht bewog die Studioatmosphäre, dass Anthony Béard, François Mignot (g), Jérémy Van Quackebeke (keys [so ein süßer Knabe!]), Guillaume Lagache (as) und François Thollot (dr) lockerer waren, bestens eingespielt und ohne Publikum ihre ganze Energie sprießen lassen konnten. (Und doch war das Freakshow Konzert toll!) Die 8 rein instrumentalen Songs bringen es zusammen auf 51:17, sind von 4:17 bis 8:02 Minuten lang. Zeuhl, Avantgarde Prog und Jazzrock sind die Basisthemen, von der Band in starken Kompositionen markant gespielt und in weit angelegten Bandimpros und Solo- / Unisonoläufen kraftvoll und schön 'weird' gespielt. Erste Besonderheit: die hinreißende Dynamik im Bassspiel des Chefs und die wie entrückt komplexe Verspieltheit François Thollots am Schlagzeug (der auf dem gleichen Label schon eigene CD veröffentlichte). Was an Keys, Gitarre und Saxophon oftmals im Interplay geschieht, schreit nicht danach, solistisch vorpreschen zu wollen, sondern nach intensiv ausgebauten Arrangements, in denen alle Mitarbeiter gemeinsam zu Größe finden. Die pulsierenden Stücke haben hohe energetische Level, auf denen wenige Extravaganzen passieren; schräge Ausbrüche wie in der "M.A.Suite" sind eher selten, Freejazz und Heavy Prog bleiben dort allerdings auf hoher Basis. Wenn indes ein expressives Solo ausgeführt wird, sind Saxophon und Bass an erster Stelle. Die fast minimalistische Jazzrock-Arbeit an den Keyboards stellt sich kaum in den Vordergrund, und kaum ist es mit solistischen Gitarrenläufen anders. Alles passiert im Bandinterplay bis auf wenige Explosionen. Das macht es einerseits etwas schwierig, dem kaum sehr eingängigen Werk dauerhaft konzentriert zu folgen, andererseits ist die Qualität stetig sehr hoch und die kompositorischen Einfälle, emotionalen Einbrüche, Lyrikschleifen und kraftvollen Energieausbrüche bleiben stets markant und vital. Vitaler als auf der Würzburger Bühne. Und: Das nächste Album ist schon so gut wie fertig, meinte Chef Anthony Béard während eines lockeren Plausches am Rande der Freakshow.
Volkmar Mantei
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