CD Kritik Progressive Newsletter Nr.76 (11/2012)
Änglagård - Viljans öga
(57:32, Privatpressung, 2012)
Der Retro Prog feiert ein kleines Revival. Beardfish, Big Big Train, The Flower Kings - alle haben pressfrische Scheiben am Start. Das Jahr hat ja auch mit dem Referenzwerk des zeitgenössischen Retro Prog begonnen, zumindest sehe ich "The Death Defying Unicorn" so. Und da lassen sich Änglagård nicht lumpen und hauen einfach mal ihr drittes Album raus. Vor 10 Jahren wäre eine neue Platte von der schwedischen Kultband und Institution in Sachen Retro Sound noch eine absolute Sensation gewesen. Wir erinnern uns. 1992 und 1994 brachten Änglagård zwei vergötterte Alben heraus um sich schnurstracks wegen bandinterner Differenzen aufzulösen. 2003 folgte ein Kurz-Comeback mit einer handvoll Liveauftritten und 2 neuen Songs im Gepäck. Die Auflösung folgte auf dem Fuße, man sprach von bandinternen Differenzen... Ein weiteres Jahrzehnt später haben es 4 Longtracks auf das neue Album gebracht und man spricht schon wieder von bandinternen Differenzen, aber es scheint als könnten sich die inzwischen rund 40-jährigen Bandmitglieder ein wenig zusammenreißen und zumindest die vereinbarten Konzerte spielen, ehe sie womöglich 2021 wieder auftauchen. Zu dem neuen Album gibt es dann auch nicht all zu viel zu sagen. Es ist wie "Epilog" und nur nicht wie "Hybris", weil niemand singt. Das Cover ist nicht so schön wie das der beiden Vorgänger. Ein guter Kumpel meinte, es sähe wie ein missglücktes Heavy-Metal-Cover aus. Die Band spielt absolut souverän und perfekt. Der Sound ist ebenfalls auf den Punkt gebracht. Es ist ein hochklassiges Änglagård Album. Zwischen Genesis-Melodie, Folklore, crimsoiden Freakouts und schwedischer Bitterkeit (für alle, die erstmalig von der Band hören...) Alles einwandfrei und richtig, richtig gut. Aber es hat nicht den Charme der beiden Kult-Alben, es ist einfach eine Platte, die dem Publikum das gibt, wonach es gelechzt hat. 100% Änglagård! Und ich stelle mir bei so etwas immer die Frage, mit welcher Intention die Musiker zusammengekommen sind. 20 Jahre keine gemeinsame Platte gemacht und das Ergebnis ist eine Kopie einer Platte von vor 20 Jahren? Das wollen die Musiker? Mir fehlt da Entwicklung, mir fehlt da deutlich mehr Charakter und Relevanz. Andererseits kann ich einem "Trademark" nicht vorwerfen, dass es einer gewissen Richtung folgt. Wollten die Jungs und das Mädel heute Jazz oder Pop oder irgendwas anderes machen, so fänden sie auch andere Musiker mit denen sie das verwirklichen könnten. Nein, Änglagård steht für genau diesen Sound und den wollen wir ja letztlich auch. Aber ein Hauch mehr Variation, eine minimale Erweiterung der musikalischen Idee, das wäre es doch gewesen... Hatten wir 2003 in den beiden neuen Stücken nicht Ansätze von Jazzrock vernommen? Wo sind die geblieben? Warum hat die Band nicht etwas mehr Persönlichkeit in die Musik bringen können. Sind das die gleichen Persönlichkeiten wie 1994? Ich hoffe und glaube nicht, aber man muss der Musik jede Entwicklung absprechen und somit ist für meinen Geschmack irgendwas bei der Platte schief gelaufen. Ich tue mich schwer mit einer richtig gut gemachten Platte, die mir vor 10 Jahren vermutlich Tränen in die Augen getrieben hätte. Heute tue ich sie eher mit einem Achselzucken ab. Und das macht mich auch ein bisschen traurig.
Fix Sadler
© Progressive Newsletter 2012