CD Kritik Progressive Newsletter Nr.75 (07/2012)

AmAndA - Là où chimène dort
(67:24, Polypheme, 2012)

Seit "La maison de flore" sind schon wieder fünf Jahre vergangen, und bevor man sich die Frage stellt, wann (endlich) das neue Album von AmAndA (wer war das noch?) erscheint, ist es plötzlich einfach so da - und wirft gleich die nächste Frage auf: wer, bitte schön, ist denn nun "Chimène"? Und wie das bei den Geheimniskrämern aus Belgien so ist, bleibt die Frage natürlich unbeantwortet, auch wenn die Geschichte von Chimène im Titelsong erzählt wird - poetisch und ein wenig lyrisch bizarr, wie es der Art der Band entspricht. Auch in anderen Tracks werden reichlich skurrile Anekdoten präsentiert, die nachdenklich machen: die des Klons von Herrn Claude, oder die eines abstrusen Pokerspiels, um nur zwei Beispiele zu nennen. Im weiteren Verlauf wird sodann in Alliterationen, die von Mik3 zu einem kleinen sprachlichen Wunderwerk zusammen gesetzt werden, die Frage erörtert, ob der Verrückte ("Fou?") wirklich verrückt ist, oder vielmehr seine Umwelt, die ihn dafür hält. Die Belgier brechen mit ihrem dritten Album zu neuen Ufern auf. Der Gesang ist weniger exaltiert und dafür variabler, es gibt deutlich mehr Sound-Gimmicks, die den Artrock Charakter etwas stärker betonen. Auch kontrastieren lyrisch-melodische Passagen weniger oft mit aggressiveren Riffs und Rhythmen, was das Album insgesamt ruhiger, stilistisch ausgereifter und "breiter aufgestellt" erscheinen lässt. Die Gesangsparts sind nach wie vor sehr emotional angelegt (jetzt auch von Saaam - "Confidence" und Claude Palaster - passenderweise Monsieur Claude in "Le clone...") und passen damit zu den fein arrangierten Kompositionen. Nicht übertrieben komplex kommt AmAndA hier aus den Boxen, jedoch auch mit einigen experimentell angehauchten instrumentalen Klangbildern, die vom nun vollständig integrierten Gauthier Budke stammen. Erneut bedient man sich des Stilmittels der einleitenden Passagen, die mit den eigentlichen Songs verschmelzen und so für den Hörer zu szenischen Erzählungen zusammen wachsen. So bilden (nach dem "Vorhang Auf!" - Intro) "On the way" und "Littleton" eine Einheit, die durch das Ineinanderlaufen beider Tracks deutlich gemacht wird. Das anschließende kurze "Aux bons soins..." bereitet den Weg für "Le Clone..." und die Fragestellung vor "Fou?" ("Sein oder Werden...") lässt keine Zweifel an der gemeinsamen Thematik. Bevor "Poker Céleste" gespielt werden kann, müssen zunächst Karten verteilt werden, und auch der Anschluss "La ballade..." wird zuvor im Text von "Poker..." bereits angedeutet. Das Album hat im Grunde keine Schwachstelle (über das unnötige "Lala, Lalala" am Ende sehen wir mal großzügig hinweg - es ist auch im Booklet nicht einmal erwähnt), es ist umsichtig und mit Liebe zum musikalischen Detail produziert, feinfühlig komponiert und hat einen hohen Unterhaltungswert. Einzelne Songs heraus zu heben würde das Niveau der anderen unnötig abqualifizieren. Trotzdem seien als bemerkenswerteste Tracks hier genannt: "Le clone de Monsieur Claude", "Confidence", "Là où Chimène Dort", "Au bout de ma rue" und "On". Aber auch die nicht ganz ernst gemeinte Liebeserklärung von Mik3 an die Heimat "O Belgique chérie" hat ihre Qualität und lässt schmunzeln. Die lange Wartezeit hat sich für die Fans definitiv gelohnt, es ist ein tolles Album geworden. Nicht ganz so Rock-betont wie der Vorgänger, aber dafür mit viel Raffinesse und größerer Reife ausgestattet, was zu einem insgesamt einheitlicheren Gesamtbild führt. Wer sich von französischem Gesang nicht abschrecken lässt und schöne Melodien mit pfiffigem Songwriting liebt, dem sei diese CD sehr empfohlen.

Jürgen Wissing



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