CD Kritik Progressive Newsletter Nr.75 (07/2012)

Cucamonga - Alter huevo
(40:02, AltrOck Productions, 2012)

Nicht weniger überraschend und überzeugend, noch deutlicher zappaesk und 70s Jazztrunken sind die instrumentalen Mätzchen der Argentinier Cucamonga. Argentinien hatte schon in den 70er Jahren eine sehr interessante und vielfältige Progressive Rock Szene. Doch was die verflixt retrospektiven Cucamonga hier machen, war selten noch da. Wie Inner Ear Brigade setzt die Rhythmusabteilung auf edle Gehölze, Mallets - Vibraphone und Marimba, Glockenspiel und weitere Perkussion neben dem dauerhyperaktiven, frakturbeseelten Schlagzeug von Julián Macedo. Bruno Rosado (ts, ss), Mauricio Bernal (p, mar, acc, perc), Oscar "Frodo" Peralta (g) und Adriano Demartini (b, funny voices) machen die grandiose Band voll, die erlesene Einflüsse aus den alten Hochtagen des Progressive Rock in eigenständigen Kompositionen durchfluten lässt. Neben Zappa ist dies vor allem Hermeto Pascoal, weniger europäischer als eher amerikanischer Jazzrock, fetter Progressive Rock, der Hardrock liebt, diesen aber avantgardistisch mimt, Neutönendes aus dem "ernsten" Bereich; mediterrane Warmluft umkreist die Komplexseligkeit des Jazz-Jazzrock, in den Kompositionen steckt europäische Strenge, die indes vital und energisch mit überschießender Spiellust lebhaft gemacht wird. Mehr als einmal sind starke Reminiszenzen an das einzige und selbstbetitelte Album von Hermann Szobel zu hören (das es trotz seiner enormen Qualität immer noch nicht auf CD gebracht hat), weniger streng und druckvoll, verspielter und lüsterner, mit zahllosen Zirkusclownerien und Holterdipolter-Überschlägen der grandiosen Rhythmusabteilung, die mal frankophil, mal wie im dynamischen Jazzrock Chiles oder: Zentrum: Frank Zappa klingt. Nix indes ist geklaut, die Chose ist eigenständig und voll überzeugend. Der Jazz-Anteil ist sehr hoch, der Spaßfaktor auch, immer wieder geben sich clowneske Auftritte die Ehre und bringen Farbe ins vitale Spiel. So komplex die Musik, so wenige Hürden oder anstrengende Partien sind zu überstehen (na gut, einige gibt es doch!). Glücklicher Weise ist die Gesangsabteilung unbesetzt, bis auf einige "funny voices" und etwas emotionales Geschrei in kreischenden Passagen sind alle Klänge instrumental. So geht nichts an Refrains und Strophen verloren, alle musikalische Idee meint es verrückt ernst. Leider nur wohl wird Cucamonga kaum über Progressive Rock und Jazz-Grenzen hinaus fremde Genrehörer erreichen, weil diese Angst vor Anspruch und Komplexität stetig präsent ist, potentielle Hörer befürchten, zuhören zu müssen, um nachvollziehen zu können. Cucamonga haben das Zeug, Kinder, kleine Kinder für "echte" Musik zu begeistern. Die lachen ständig und fragen, wie die Musiker das machen und hören ganz genau zu. Und sobald die CD ausgespielt ist, machen sie sie wieder an. Vierjährige können das. Einen ganzen Tag lang. Und mehr. Essentiell!

Volkmar Mantei



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