CD Kritik Progressive Newsletter Nr.74 (02/2012)

Pocket Orchestra - Phoenix
(79:03 + 79:22, AltrOck Productions, 2011)

Die (Neu-)Veröffentlichung dieser Aufnahmen macht Mut. Da sind noch immer Schätze, die nicht gehoben sind. Die erste CD dieser 2CD-Produktion war bereits 2005 veröffentlicht worden, ist längst ausverkauft und kaum second hand zu finden. Die Auflage vor 6 Jahren lief unter Pocket Orchestra - 'Knebnagäuje'. Die Band tat sich schwer, einen Namen zu finden. Schließlich einigten Tim Parr (g, R.I.P.), Bob Stearman (dr, R.I.P.), Craig Bork (keys), Tim Lyons (b, R.I.P.) und Joe Halajian (saxes, cl, voice) sich auf Knebnagäuje, was 'Neeb na gasi' ausgesprochen wurde, in der Szene waren die Band nur 'die Knebs'. Das war Ende der 1970er Jahre. 1982 nannten sie sich in Pocket Orchestra um, kurz bevor die Band, die nur eine kurze Pause einlegen wollte, in die Geschichte einging. Auf Gitarrist Tim Parr gehen die Wurzeln der Band zurück. 1975 wollte der Avant- und Prog Freak seine eigene Band gründen, ausgefallene, ungewöhnliche Musik spielen. Zuvor hatte er bereits mit Bob Stearman und anderen in Vorgängerbands gespielt. Bis 1979 waren Craig Bork, Tim Lyons und Joe Halajian gefunden, ergänzten das Line-Up. Genau lässt sich der frühe Werdegang der Band nicht mehr eruieren, mit Tim Parr gingen die Details ins Avantrock-Nirvana ein. Die Band jammte 15 bis 30 Minuten am Stück, Tim Parr nahm alles auf und hörte die Aufnahmen an, suchte aus, was gut war und stellte so Stück für Stück die äußerst schrägen Songs zusammen. Craig Bork meint im Rückblick, die ersten Aufnahmen waren der reinste Horror gewesen, Chaos pur. Es ging nicht darum, songdienliche Struktur zu finden. Alle gaben unentwegt soviel Gas, wie sie nur konnten und spielten wie die Wilden durcheinander. Manche Jamsession war so schrecklich, dass keiner glaubte, von den Aufnahmen auch nur das geringste Teil nutzen zu können. Und dann stellte sich heraus, dass hier und da coole Parts zu finden waren. Nebenher spielte die Band in jedem Club, der sie auf die Bühne ließ. Weil das eigene Material bei weitem für 90 Minuten nicht ausreichte, spielten Knebnagäuje Art Bears und King Crimson nach. Cartoons Scott Brazieal, großer Fan der Band, der sich die Shows ansah, sooft er nur konnte, meint im Booklet zur 2005er CD-Auflage (sein Text wurde in das aktuelle Booklet übernommen), Knebnagäujes Versionen von "Rats & monkeys" und "Lark's tongues in aspic Pt. 2" seinen weitaus besser als jede einzelne Aufnahme der Art Bears und King Crimsons. Mit Cartoon ist auch gleich ein sehr passender Vergleich gefunden. Gewiss kann das Pocket Orchestra mit Samla Mammas Manna, King Crimson, Univers Zero und vor allem Henry Cow verglichen werden, keine Band aber ist ihrem Sound so nah wie Cartoon und selbst die sind deutlich komponierter, weitaus weniger improvisativ. Einer der besseren Bandmomente ergab sich 1979, als Knebnagäuje aka Pocket Orchestra für Gong und Yochk'o Seffer eröffneten. Sie hatten aktuell kein Programm und schrieben extra "Bagon" dafür, ein kleines Meisterwerk, das mit knapp 17 Minuten zur längsten Komposition der Band werden sollte. Leider wurde das Konzert nicht aufgezeichnet. In den letzten Jahren ihres Bestehens war die Band von den vielfachen Umzügen ihrer Mitglieder geprägt. Einst hatten sie gemeinsam ein Haus gemietet, doch schließlich ging ein jeder in den frühen 80ern in andere Städte, nach Phoenix oder New Jersey etwa. Das letzte Konzert gab das Pocket Orchestra 1984 im "The Stone" in San Fransisco, aus der sich anschließenden Pause wurde das allmähliche Ende der weit auseinander lebenden Band. Immer wieder gab es Ideen, das Pocket Orchestra zu reformieren, neu zu beginnen, weiter zu machen. Tim Parrs Tod im August 1988 machte die Idee zunichte. 1998, 10 Jahre später, starb Bassist Tim Lyons während eines Unfalls. Bob Stearman erlitt 2004 einen Schlaganfall, von dem er sich nie wieder erholte. 2010 starb auch er. Die Neuauflage der Bandaufzeichnungen wurde durch Udi Koomran remastert. So ist nicht nur der zweiten CD, die wie die erste 79 Minuten lang ist, ein erstaunlich guter Klang gegeben, auch die bereits 2005 veröffentlichten Studioaufnahmen sind komplett exzellent überarbeitet worden. Die Studioaufnahmen selbst sind einst in zwei verschiedenen Partien aufgezeichnet worden. Die ersten 4 Tracks stammen von einem 1984er Demotape, das eindrücklich nachvollzieht, wie der Bandsound stets schräger, avantgardistischer, energischer und lebhafter wurde, dabei ungemein Spielwitz und Radikalität entwickelte. Nicht weniger eindrucksvoll sind die weiteren Stücke, die während einer 1979er Session aufgenommen wurden. Das Pocket Orchestra vereint in seinem Bandsound diverse extravagante Stile. RIO, Canterbury, Jazzrock, Musique Concrete, Avant Progressive Rock, Free Jazz, atonale Neue Musik, Chamber Rock, dadaistisch humorvollen Instrumentalnonsens, dessen exzellente Lässigkeit und energische Geschwindigkeit hinreißende Verknotungen und Auflösungen präsentieren. Der Klang der Aufnahmen ist beeindruckend gut, lebhaft, dynamisch, vital, etwas schwer in den tieferen und leicht in den höheren Tönen, aber durchweg sehr gut genießbar. Die zweite CD enthält Live-Material, das bislang unveröffentlicht war. Als Marcello Marinone und Francesco Zago, die Labelmacher von AltrOck im Kontakt zu Craig Bork und Joe Halajian herausbekamen, dass Tonnen Live-Material vorhanden seien, war die Entscheidung gefallen. Der Phoenix wurde wiedergeboren. Der Klang der Live-Aufzeichnungen ist gewiss weniger gut als der der Studioaufnahmen, jedoch nur gering und stets ohne Einbrüche, alles ist um Längen besser als bester Bootlegsound und in jedem Fall sehr gut anzuhören. Udi Koomran hat ganze Arbeit geleistet. Zwar sind ab und zu Stimmen aus dem Publikum im Hintergrund zu hören, die aber weit im Off herumschwimmen und kaum schlechten Eindruck machen. Nein, die Konzertaufnahmen auf CD2, zwischen 1980 und 1984 aufgenommen, präsentieren nicht nur ausgedehnte und in wahnwitzigen Improvisationen und voll extravaganter Radikalsoli ausgedehnt lang gewordene Versionen der sowieso schon langen Bandsongs, zudem sind bislang unveröffentlichte Kompositionen zu finden, die das Studioerbe der Band enorm bereichern, alles in ausreichend GUTEM Sound. (Solch eine Auflage mit Live-Aufzeichnungen brauchen Cartoon ebenfalls - das gekürzte Cuneiform CD Programm reicht nicht aus!!!) Für Avant Prog Freaks und Jazzrock-Süchtige ist die 2CD absolutes Pflichtprogramm. Legt euch das Teil nur unbedingt zu!

Volkmar Mantei



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