CD Kritik Progressive Newsletter Nr.74 (02/2012)
Kings Of Belgium - Très fort
(51:21, Off Records, 2011)
Isch lieber diese Bild auf der Rückseite von die Cover! Drei Jungs grinsen in die Kamera, weil der flotte Lärm, der ihnen gemeinsam wohl gelingt, macht, dass ihnen die Decke (und der Himmel) nicht auf den Kopf fällt. "Très fort" ist die sechste Scheibe der P.V. Presents Serie, und ein Meilenstein im Avant Rock. Im kleinsten Studio der Welt bei schwedischen Frischhaltetemperaturen drängelten Gil Mortio (g, keys, Attica, Bruno Vansina, etc.), Pierre Vervloesem (b, sounds, X-Legged Sally, A Group, Deus, Flat Earth Society, etc.) und Morgan Ågren ("Ägren") (dr, Mats & Morgan, FZ, Fleshquartet, Fredrik Thordendal, Mike Keneally, Kaipa, etc.) sich in drei Ecken des Häuschens, die das Studio ausmachen (die vierte Ecke: die Tür) und legten los. Basis: Funk, Avantgarde, Geschwindigkeit, Witz, Komplexität, Jazz, Worldfolk und nix von allem. Morgan Ågren donnert Poser-Spiel in bester Diskofunkmetalprog-Manier und hat wie seine Mitarbeiter den Schalk im Nacken. Wer derart musikalische Lautäußerung eher nicht gewohnt ist, mag sich fragen, wo da Humor und Ironie zu hören sind, ohne dass aufgesetzter Dämlichwitz die Chose beherrscht. Zuerst einmal sind die drei Musikanten erstklassige Handwerker, in allen Wassern gewaschene Stilbrüchler und inspirierte Ideengebärer. Der Spaß an der Zusammenarbeit ist jede Sekunde zu hören. So leicht und vital ist extremer Avantrock selten. So auf das deutsche Spezialpublikum gemünzt, bleibt festzuhalten, dass die Charlybesucher mit Kings of Belgium die perfekte Ladung bekommen. Das Trio hält keine Schrägheit zurück, und wagt für zumindest Sekunden Ausflüge in alle Genres der elektrischen Moderne. Reggae, Funk, Metal, Jazz, Pop, Funk, die typische Rabaukenhaftigkeit Vervloesemscher Ideen: Tiersamples, sphärische Soli, laszive Einschübe, stete Brüche, ständige Themenwechsel: aus der tiefsten Elegie in Schwalbenbegleitung über Jazzgedonner in zarte Progborsten, auf denen keiner stehen bleiben kann. Morgan Ågren ist wohl zu erkennen, im Geschwindigkeitsrausch, in der exakten und enorm hohen Taktfrequenz, im brachialen, herrlichen Donnern (echt donnern! DONNERN!). Der dritte im Bunde ist mir persönlich unbekannt. Er macht seine Sache gnadenlos gut, greift fest in Metalmonstertiefen, Jazzphrasierungen, in die Funktrickkiste, kann Soli und 'Melodie' und nennt seinen persönlichen Stil Idol-Pop, Konkret, Psychobilly. Klar. Was "Très fort", geht nicht zu beschreiben. Kann nur unbedingt zum Vertiefen empfohlen sein. Die Scheibe liegt jetzt seit drei Wochen jeden Tag mehrfach im Player und überrascht mich immer noch und wieder. Manch lyrischer Einschub, wie etwa "Living stone", bleibt trotz komischer Elemente und steter hinreißend überraschender Ideen melancholisch und sphärisch, in der großen Stille steckt ungehörig pausenlos viel Unruhe, die als Motor für die lyrische Schönheit Pink Pong spielt und nicht zu bremsen ist. Und wenn so ein "Song" scheinbar harmlos beginnt, ist die Strecke kurz, auf der der Puls normal läuft, bis an der nächsten Ecke der Überfall lauert. Macht nicht den Eindruck, als seien die Songs spontan, rein improvisativ entstanden. Und doch sind die Ideen just während der Zusammenarbeit komponiert, gespielt und Peng, da! So vital, energisch, inhaltsreich und komplex ist's im progressiven Avantrock selten. Manches Sample bringt Filmmusik-Atmosphäre ein, andere, wie die Tiersamples, unterstreichen die Soundlust des Trios, neben aller krassen Abgekrasstheit und extraschrägen Liedkunst für humoristische Accessoires zu sorgen und die Chose unterhaltsam zu halten. 12 Stücke sind auf der CD, ich wünschte, es wären mehr. In diesem Geiste. Und tatsächlich, wer sich nicht für den physischen Datenträger entscheidet und auf dem Off Label digitale Tracks lädt, bekommt zwei Stücke mehr. Sauerei! Nein, gut. Einen Vergleich zu ziehen, damit der geneigte Hörer weiß, ob die Chose überhaupt was für ihn ist, ist nix leichxt. Vielleicht liegt "Très fort" irgendwo zwischen Fred Frith, Massacre, Residents, Frank Zappa, A Group, Mats & Morgan und Kings of Belgium. Wer sich von Avantrock im Allgemeinen und Speziellen angesprochen fühlt, "progressive Komplexe" bevorzugt, es in jeder Hinsicht gegen den einfachen Strich mag, abgefahren heftig verschachtelten Rhythmus und Funkbombastfunk mit viel Düsterhumor mag, der kein Stück lustig und längst nicht dunkel ist, der wird im oberschicken Sound der Könige von Belgien genüsslich ertrinken und ab sofort mit Kiemen hören. Schräg. Laut. Atonal. Intensiv. Abgefahren. Hart. Witzig. Jazz. The Kings of Avantrock. Bitte mehr davon! Sofort! Musik ist das Beste.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2012