CD Kritik Progressive Newsletter Nr.74 (02/2012)
Camembert - Schnörgl Attakh
(51:70, AltrOck Productions, 2011)
Die Franzosen Camembert haben gewiss Alben der Hippies von Gong gehört und vermutlich auch Spaß am abgedrehten (alten) Sound der alten Combo gefunden. Und selbst wenn sie sich mit den ersten beiden (!) Songs einen netten Spaß erlauben und die Verpackung von den französischen Psychedelic Rockern / Jazzrockern inspiriert zeigen und zudem auch noch "...Zero" im zweiten Songnamen haben, so sind die humorvollen Jazzrocker doch weitaus dichter an Frank Zappa als an Gong, auch was Fabrice Toussaints Arbeit betrifft, der näher an Ruth Underwood als an Mireille Bauer ist, sich weitaus mehr von der amerikanischen als von der französischen Mallet-Lady inspirieren ließ. Ganz weit weg vom Gong-Kosmos sind die French Men indes nicht, immer wieder einmal schimmern und wabern psychedelische Abgefahrenheiten aus den Songs. Zappa-nah: an "The Grand Wazoo" und anderen Jazzrock-Großtaten. Die komplexen Songs setzen auf Themenvielfalt, energischen Songaufbau, drahtigen und differenziert komplexen Rhythmus, herzhafte Bandinterplays mit satten Bläserfarben und emotional auffahrende Themen, die auf der einen Bergseite hochgefahren werden und auf der anderen wieder runtertouren. Und wenn die Gitarrenarbeit von Vincent Sexauer auch längst nicht schlecht ist, so ist er doch keine solistische Leuchte wie der FZ-Stern am Extra-Avant-Himmel. Zudem gibt es viele weitere Referenzen: die Nähe zu King Crimson, zu Pat Metheny, Return To Forever, partiell zu Herbie Hancocks Funk, oder zu Henry Cows und Art Zoyds Atonalität. Das große Muss an dieser wunderbaren Platte ist das stets schön hoch aufgefächerte Bandinterplay, die lebhaften, satten Arrangements, in denen die gesamte Band schwelgt und die über lange Minuten energisch und rasant ausgebaut sind. Mal schwimmt darunter ein psychedelischer Keyboardteppich, leise im Off, mal zerzaust sich so ein Thema in flotter Reggae-Banalität, stampft in düselig lakonischen Funk oder brandet in vitalen Soli auf. Mal wird es etwas schmalbrüstig und dünn, dann breitet die Band einen kaum einfach so aufnehmbaren Sound aus. Die Themenvielfalt und stilistische Wechselhaftigkeit verblüfft, überrascht und zieht in den Bann. Wenn fast stets nur ausgefallen progressives Instrumentalgut präsentiert wird, tun einige Passagen auch leichtere Gänge auf, die dem Ganzen kaum Abbruch tun, indes beweisen, dass Camembert eine vielköpfige Band ist, in der unterschiedliche Präferenzen angesteuert werden. Die verschiedene Interessenlage gibt jeder Passage Tiefgang und Größe, weil ein jeder seinen Input beweisen musste, um ihn vor den anderen nicht verwerfen zu müssen. Alle Stücke sind besonders und hervorragend (nach den kurzen ersten Introschnipseln) - und immer wieder stehen zwischen den ausgedehnt langen Tracks ganz kurze Notizen, die nicht weniger faszinieren, ob nun ihres schlichten Themas, ihrer hohen Emotionalität oder lyrischen Melancholie wegen. Die langen Tracks, Hauptsache der Platte und von den Minis gut abgefedert, orientieren sich auf Brass-satten Jazzrock, wie der 1975 sein ultimatives Hoch fuhr. Der Sound ist zeitlos, elegant, rasant und unterhaltsam. Und zuerst: wer Fan der mittel alten Zappa-Geschichten ist, ab "Hot rats" und vor allen in den Jahren 1973 und 1974 live irrwitzig zelebriert, wird Camembert besonders mögen und sich fragen, warum der Gitarrist 'normales' Bandmitglied ist und nicht zu extraordinären Soli ansetzt (die es eher zaghaft gibt). Mehr davon. Dann noch mehr. Keine Farce.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2012