CD Kritik Progressive Newsletter Nr.74 (02/2012)

Dave Willey & Friends - Immeasurable currents
(43:33, AltrOck Productions, 2011)

Mit dem ersten Ton gleich erinnern Dave Willey & Friends, und dieser Eindruck verlischt bis zum Ende der CD nicht, an die große Schwester der Band: Thinking Plague. Dave Willey ist Mitglied in Thinking Plague, dies nicht allein, diverse Mitglieder der Band, Chef Mike Johnson, Schlagzeug-Virtuose David Kerman und vor allem Gesangsstimme Deborah Perry, gehören zu den 'Friends'. Letztere singt auf Gesangslinien, die stark von Thinking Plague und der Handschrift Mike Johnsons geprägt sind. Die Melodielinien, ihre Stimme, der instrumentale Kontext - die Nähe zu Thinking Plague ist stets deutlich. Und doch sind die 12 Songs auf "Immeasurable currents", Dave Willeys Kompositionen nach Gedichten seines Vaters Dale, längst nicht so rocktypisch und avantgardistisch wie die Thinking Plagues. Die Songs sind R.I.O.-Folk, avantgardistisch ausgeprägt, eigenwillig, ausgefallen, melodisch hochkomplex und extravagant, und doch von großer Leichtigkeit und zarter Lyrik. Die führenden und Melodieprägenden Instrumente sind akustisch: das Piano, und vor allem das Akkordeon. In den ersten Hördurchgänge geben die Songs sich noch sperrig, der ungewöhnliche Mix aus ausgefallener, schräger Komposition und liedhaften Arrangements mit diesen Gesangslinien, der starken, prägenden Stimme und der extravaganten instrumentalen Vielfalt und, ja, Verrücktheit, brauchen etliche Hördurchgänge, um sich zu öffnen. Manche Passage ist fast schon etwas süßlich, gerade, wenn Deborah Perry ins Melodisch Leichte wechselt, was zum Glück nur wenig geschieht und sich für wenige Sekunden eine fast schlagerhafte Stimmung aufmacht, wie ein Blitz am Himmel. Kaum, zum Glück. Nicht drauf achten. Der verschrobene, morbide Charme der ländlichen Stücke ist, erst einmal eingehört, sehr kurzweilig, die raffinierten, instrumental reichen Arrangements machen die Songs und das ganze Album für Avant- und Prog-Süchtige interessant, selbst wenn in "Mitch" eher ein starker Leonard Cohen Touch präsent ist und die oft sehr zarten und in aller dunklen bis abgründig wohligen Melancholie warmen und lebhaft herbstlichen Songs schöngeistig und liedhaft eingängig sind. Ganz besonders wird es, wenn sich zum Schluss im letzten Track "Nightfall" diese sphärisch ambiente Klanglyrik offenbart, die stark von der schwedischen Psychedelic Band Älgarnas Trädgård ("My childhood trees" auf 'Delayed") inspiriert, ja geklaut scheint. Hugh Hopper hatte noch Anteil an den Aufnahmen, schrieb Songs, die auf der CD enthalten sind. Die ganze illustre Crew hat ein irrwitzig schönes Album eingespielt, das vielleicht sogar Folkfans gefallen kann, wenn die vor atonaler Extravaganz und morbider Instrumentalwollust nicht zurückschrecken.

Volkmar Mantei



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