CD Kritik Progressive Newsletter Nr.74 (02/2012)
Sigur Rós - Inní
(53:14 + 50:49, Krunk, 2011)
Die Uhren scheinen in Island irgendwie anders zu ticken. Mit dreijähriger Verspätung legen Sigur Rós ein Livealbum ihrer 2008er Tour vor. Mitgeschnitten an zwei Abenden im Londoner Alexandra Palace ist "Inní" der erste offizielle Konzertmitschnitt vor einem großen Publikum, nachdem das 2007er Werk "Heim / Hvarf" doch mehr eine Zusammenstellung vor einem sehr elitären Kreis während verschiedener Auftritte in der Heimat darstellte. Abgesehen von der zeitlichen Verzögerung ist "Inní" das vorläufig ultimative Livestatement einer überaus eigenständigen Band, die sich nie um irgendwelche Trends geschert hat und trotzdem in jeglicher Hinsicht sehr erfolgreich in ihrem ganz eigenen Mikrokosmos lebt. Als formidabler Querschnitt durch alle ihre Studiowerke ist dieses 2fach Livealbum eine emotionale Achterbahnfahrt, die nicht nur die anschwellende Dynamikexplosionen des Post Rocks perfektioniert hat, sondern eben auch auf der Gefühlsebene noch mehr berührt, als dies auf den Originalaufnahmen gelingt. Sigur Rós sind live zerbrechlicher, kratzbürstiger, ziemlich oft einfach hinreißend schön, aber eben auch aufwühlender und intensiver. Dieser Mitschnitt fließt mal wie ein sanftes Bächlein, um später zu einem mächtigen Strom anzuschwellen. Dazu kommt ein grandioser Sound, der den Zuhörer förmlich einsaugt und zu einem Teil des Konzerterlebnisses vereinnahmt. Dass der anspruchsvolle Touch auch mal komplett in die Hosen gehen kann, dokumentiert die leider völlig missratene DVD, die bereits Anfang September auf dem Filmfestival in Venedig vorgestellt wurde. Verfremdete, undeutliche Aufnahmen in schwarz-weißer Kriseltechnik sollen künstlerisch wertvoll wirken, doch zerstört die minimalistische Ästhetik in ihrer Undeutlichkeit fast vollständig die Magie des Auftritts. Die visuelle Umsetzung unterstreicht nicht die Kraft der Musik, sondern macht sie mehr oder weniger kaputt. Deswegen deutliche Abstriche in der B-Note. Doch zum Glück kann man eben auch nur die Musik anhören, die eben auch ganz alleine wunderbar funktioniert.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 2012