CD Kritik Progressive Newsletter Nr.73 (11/2011)

The Nerve Institute - Architects of flesh-density
(56:52, AltrOck, 2011)

Seit Progressive Rock in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts neu an Fahrt gewann und die heutige Lawine zäh, schwerfällig und unbequem wieder anlief, gab es immer wieder tapfere Einmann-Projekte, deren qualitatives Erbe schnell erlosch, die aber für Funken sorgten und das geplagte Genre anheizten. Kein Vergleich dazu The Nerve Institute des einsamen Mike Judge. Der in Kansas City beheimatete Musiker hat alles, was an "Architects of flesh-density" drauf und dran ist, eigenhändig und -köpfig geschrieben, arrangiert, eingespielt und aufgenommen. Die Liste der Instrumente ist lang, neben den üblich Verdächtigen g, b, dr sind 'upright piano', Perkussion, Rhodes, Wurlitzer, Clavinet, Orgel, Mellotron, Synthesizer, Banjo, Mandoline, Tenorsaxophon, Gesang und 'tape loops' gelistet. Die Einspielung ist dynamisch und vital, nichts klingt gekünstelt oder fad, weder scheint es, als überforderte die One Man Band auch nur ein Instrument der Liste, noch hätte er technische Probleme, diese allesamt mit Verve und Witz zu bedienen. Zudem sind die Kompositionen gelungen, sehr ansprechend und typisch AltrOck - wenn das so gesagt sein darf. Stilistisch bewegt sich Mike Judge im weiten Feld zwischen avantgardistischem Jazz / Rock, Jazzrock und Progressive Rock mit einem Hauch ambienter Patina. Als Referenzen sind The Underground Railroad (passt perfekt!) und Frank Zappa (entfernt verwandt) angegeben, sowie die Avant-Prog Szene, ein weit gefasster Begriff, aber wer sich im Genre auskennt und sich zusätzlich die Namen Thinking Plague und Gentle Giant denkt, weiß genau, was damit gemeint ist. Am wenigsten gut an der herausragend guten Platte gefällt mir der Sound des Schlagzeuges, der etwas pappig klingt und nicht den Druck hat, den er haben könnte. Die Schlagzeug-Einspielung indes hat kein Manko, nicht nur rein technisch ist alles feinstens geraten, der Rhythmus ist differenziert, komplex und - im steten Strukturwandel der Albumsongs - von ständigen Brüchen und Wandlungen durchzogen. Wie andere AltrOck / Fading-Bands auch ist nicht 'Rock' die erste Intention des Musikers und seines Projektes, sondern kunstvoll komplexe, abgefahren schräge, vital energisch einzigartige Musik im Spannungsfeld abenteuerlicher und zugleich witziger, weil vitaler und kluger, weil ungeahnt überraschungsreicher Musik zwischen Progressive Rock, Jazz und Neuer Musik, gewiss R.I.O.-verwandt, wobei ich nicht glaube, dass der gedankliche Hintergrund Opposition ist, sondern kreative Konstruktion. Ein (mehr oder weniger) deutsch betitelter Track ist auf dem Silberling: "Die neue moritat ...", elektronische Sounds eröffnen die keine zwei Minuten lange Note, die wie Überspannung klingen, als spiele ein Physiker im Labor an den Knöpfen seiner Apparate und erforsche die "Hadassah Esther Cruciform" - die bald darauf einen ganzen eigenen Track bekommt und - wie fast alle Songs des Albums - über 8 Minuten lang ist. Lustig ist es schon, zu erfahren, dass in der größten Stadt des Cowboy-Ländles Missouri ein Canterbury-Crack lebt, der mit großartiger Kreativität und unglaublicher Inspiration ausgestattet ist. Da fangen die Typen in der englischen Universitätsstadt wohl bald an, Cowboyhüte zu tragen, auf Pferden zu reiten und Southern Rock zu spielen. Tipp!

Volkmar Mantei



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