CD Kritik Progressive Newsletter Nr.73 (11/2011)

Inyaka - Erdaufgang
(54:27, Timezone Records, 2011)

Sehr geehrter Herr Mantel - wer ist gemeint? Meine Jacke? Nix, die wissen mit Worten zu spielen und fangen den Beilagebrief ebenso an. "Am Anfang war da was... Quartenphysik, liegende Acht? Das Ganze ist mehr als das Summen seiner Teile - eine Musik, ein Mosaik - ein Farbton, Protestnoten, Bestnoten. Ein Motiv, aber kein Alibi - diskante Situation! Arbeit im Akkord - ein Hang zum Klang... linear abgewedelt. Tomatenhauptsatzform, augenschließlich ohrenbesinnend, Ton für Ton entsteht das Kammermusaik - eine Geschichte, unserer Geschichte." Falk Ostendorf (b), Edin Mujkanovic (g), Robert Riebau (dr), Markus Kröger (as, bar-s) und alle zusammen im Chor spielen mit Worten wie mit Tönen. Ihr experimentell verspielter, schnörkelreicher Folk Jazz setzt auf zappaeske Erfahrungen, auf komplexe Musik, ohne technische Meisterleistungen zu zelebrieren. Die Hürden und Gräben werden technisch gegraben, sportlich anvisiert und humorvoll genommen. Über allem herrschen die Lyrik intimer Stimmung, die Zartheit emotionaler Hingabe, der Kopf technischer Fertigkeit. "Erdaufgang" enthält 8 Songs, die zusammen 54 Minuten ausmachen. Überwiegend sind die Stücke ins epische Format geschrieben, die Band hat Ideen zuhauf und diese klug und kreativ eingebaut. Da sind humorige Partien, knochentrocken flotte Motive, gebrochen von melancholischen Einschüben, rhythmischer Agogik, hier ein Floh, da eine Mücke, dort ein Sprung, eine Schaukel, ein Sprung, eine Blume und ihr zarter Duft, der Wind in den Baumwipfeln und seine Stille. Der Postbote stürzt vom Rad, der Bagger rutscht in den See, der Redner fällt vom Podest, ein Kind läuft über die Straße. Die Stimmungen wechseln und was soeben lustvoll war, hat nun ernsthafte Dunkelheit. Und in aller Ideenfülle, in allem Spannungsreichtum verlischt Zeit, vergeht Raum, was bleibt, ist der Klang, fesselnd, gefangen nehmend, mehr als unterhaltend. Da ist eine seltsame Parallele. Im weiteren Verlauf der 11 Minuten von "Die wundersame Mandarine" klingt die Stimmung auf, die Charles & Morgan 1974 auf ihrem gemeinsamen Debüt "Homework" in der langen Rille auf der zweiten Seite bastelten: akustische Gitarre ins Epische unterwegs, unendlich von der Band begleitet: der Ansatz des Gitarrenspieles samt der Klangverfremdung, die Zartheit der Melancholie, die Frisches des Rhythmus. Vielleicht wird das Album in seiner langen Dauer etwas einlullend, weil der Energielevel stets gleich bleibt. Die sensible Lyrik bestimmt trotz einiger forscher und etlicher humorfrischer Ideen alle Songs. Verinnerlicht und versunken agiert die Band, ganz im Klang aufgegangen. Die Außenwelt ist verblasst. Im Konzert wird diese quasi akustische Progression alles gefangen nehmen, was drumherum sitzt. So auch hier. Nichts greift mehr als der Klang. Wäre eine Schiffssirene mitten hinein gesetzt worden: der Tag hätte zwei Hälften wie das Album.

Volkmar Mantei



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