CD Kritik Progressive Newsletter Nr.71 (04/2011)

Bolus - Delayed reaction
(70:00, Privatpressung, 2010)

"Delayed reaction" ist die zweite Veröffentlichung der in Toronto / Kanada beheimateten progressiven Rockband Bolus. Da kommen natürlich hinsichtlich der Heimatstadt direkt Vermutungen zur musikalischen Nähe von Saga oder des bekannten Dreiergespanns von Rush auf. Und damit liegt man nicht ganz verkehrt. Denn Bolus übertrumpfen die kompakte und reichhaltige musikalische Inszenierung, die Rush schon nur mit drei Musikern bieten, sogar noch mit einem Mann weniger an Bord. Insofern gehört den beiden Protagonisten Nick Karch und Mat Keselman entsprechender Respekt gezollt, da sie spielend ihre Kompositionen mit einer Klangfülle und Komplexität servieren, die mancher fünfköpfigen Band ebenbürtig ist. Und sie haben die ganze Scheibe ohne Gastmusiker eingespielt. Allerdings haben sie nach der Einspielung von "Delayed reaction" ihre Band mit Daniel Avner - Bass, Bass Pedals, Backing Vocals und Kyle Grounds - Keyboards, Backing Vocals auf ein Quartett vergrößert. Die musikalische Nähe zu Rush zeigt sich aber auch in der tonalen Nähe von Leadsänger Nick Karch, der zum Glück entspannter singt und nicht so feminin wie Geddy Lee klingt. Im Gegenteil - seine Stimme ist auf Dauer wirklich angenehm zu hören. Erstaunlicherweise werde ich bei einigen Tracks (z.B. "Those who saved us" oder "Paranoia safehouse") beim Gesang auch an den frühen Ozzy Osbourne erinnert. Und wenn Bolus es schon mal krachen lassen, dabei die Rhythmen variieren und die Gesänge auch zuweilen mehrstimmig intonieren, dann liegt der Rush--Geist der späten 70er und der 80er Jahre in der Luft. Aber dies ist nur eine Facette der abwechslungsreichen Musikalität der Kanadier. Denn sie mögen ebenfalls balladeske und eingängige Melodien, wobei ich dann auch schon mal an Bands wie Saga, Salem Hill oder auch Yes erinnert werde. Dabei gibt es einige Mellotronwolken zu vernehmen oder glasklar klingendes akustisches Gitarrenspiel. Sowieso blicken sie gerne mal in die 70er Jahre, wissen aber trotzdem ihre Kompositionen frei von Patina und allzu retrogefärbter Glückseligkeit zu inszenieren. Und ein Song wie "Postman", mit seinen leicht vertrackten Reggaeläufen, hat für mich glatt Hitpotential. Den beiden Kanadiern ist hier eine erfrischende Scheibe zwischen 70er-Jahre-Flair, Modernität, eingängigen sinfonischen Melodien und hartrockender Komplexität gelungen. Außerdem dürfte sie den Klangästheten gefallen, da die Eigenproduktion äußerst knackig und luftig abgemischt wurde.

Wolfram Ehrhardt



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