CD Kritik Progressive Newsletter Nr.70 (11/2010)
Picchio Dal Pozzo - A_Live
(66:58, AltrOck, 2010)
Eine Legende auf der Bühne. Was Charly Heidenreich im deutschen Würzburg mit Leidenschaft veranstaltet: das Freakshow Artrock Festival, wird in anderen Ländern mit nicht weniger Einsatz gleichfalls zelebriert. AltrOck ist nicht nur ein Label für feine und erlesen ausgefallene Musik zwischen Progressive und Avantgarde Rock im R.I.O. Feld, die Initiatoren betreiben gleichzeitig ein illustres Festival. Und im Jahr 2008 standen Picchio Dal Pozzo, was davon noch aktiv war, Aldo De Scalzi (voc, b, keys, comp), Paolo Griguolo (voc, e-g, fl) und Aldo Marco (visual effects, perc) samt Dado Sezzi (perc), auf der Bühne des AltrOck Festivals, ihre großartigen alten Songs zu spielen. Unterstützt wurde die (halbe) Truppe um Musiker der frischen Band Yugen, die just ihr erstes Album eingespielt hatten und das erste Mal live vor Publikum spielten: Paolo "Ske" Botta (e-p, synth), Pietro Cavedon (p), Valerio Cipollone (cl-b, ss), Mattia Signò (dr) und Francesco Zago (e-g). Picchio Dal Pozzo waren bereits ein Jahr zuvor für einen Track als Überraschungsgast auf dem AltrOck Festival aufgetreten, doch 2008 gaben sie ein rund eine Stunde langes Konzert, das nun auf "A_Live" vorliegt. Gewiss sind keine neuen Stücke zu hören und das, was die Band spielt, unterscheidet sich nicht so großartig von den Studioeinspielungen, dass "A_Live" die absolute Überraschung wäre. Die es jedoch dennoch ist. Zum einen ist mit Picchio Dal Pozzo eine Band (wiederholt, nach "Pic_nic@Valdapozzo" 2004) reaktiviert worden, der zuzuhören eine ganz besondere Sache ist, weil die exzellenten Musiker radikale und virtuos-witzige Songs spielen, ihre Undercover-Klassiker in der heutigen Zeit live und in Stereofarbe auf der Bühne zu hören waren und für die dabei nicht Anwesenden wenigstens als dieser Mitschnitt (im sehr guten Sound) verewigt worden sind; zum anderen ist die Kollaboration der jungen Yugen mit den alten Picchio Dal Pozzo eine Zusammenarbeit, die auch videotechnisch von großem Interesse gewesen wäre und auf alle Fälle in diesem Mitschnitt brilliert. Beide Bandteile dürften von ihrer Zusammenarbeit begeistert gewesen sein: Picchio Dal Pozzo sehen eine Zukunft für die Art Musik, für die sie einstehen, die längst vergangen schien, und die jungen Yugen durften mit ihren Helden deren Songs spielen, was als perfekter Drogenersatz gewirkt haben dürfte. Die 9 Songs des Konzertes sind bereits auf den 4 CDs Picchio Dal Pozzos enthalten, in der Überzahl auf dem gleichnamigen Debütalbum von 1976. Und zuletzt gibt es dann noch einen Song namens "Lindbergh" aus der guten alten Zeit, der bislang nicht veröffentlicht, weil verschollen gewesen war, ähnlich wie der grandiose Fund der auf "Camere Zimmer Rooms" von Cuneiform Records nachträglich veröffentlichten historischen Aufnahmen (etliche weitere Bänder sind im Laufe der Zeit verloren gegangen). Der Klang der Aufnahme ist hervorragend, im Booklet erzählt Aldo De Scalzi, wie der Song auf zum Glück gut erhaltener Audiokassette wieder entdeckt wurde und als Teil dieses ihres ersten Livealbums verwendet werden konnte. "A_Live" ist kein absolutes Muss. Wer die beiden Klassiker der Band, die Wiederentdeckung "Camere Zimmer Rooms" und das nicht unbedingt wichtige "Pic_nic@Valdapozzo" im Bestand hat, kann (bis auf "Lindbergh") alle Songs bereits nach Belieben aus den Boxen schütten. Und doch, auch ohne "Lindbergh" will ich "A_Live" nicht mehr missen, die Neuinterpretation, das Konzert, mitsamt seinen Samples der historischen Aufnahmen ist eine mitreißende Erfahrung.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2010