CD Kritik Progressive Newsletter Nr.70 (11/2010)

Aquaserge - Un & deux
(63:26, Privatpressung, 2009)

Manche Überraschung braucht ihre Zeit, sich in Szene zu setzen. Auf der Zappanale wurde ich gezwungen, diese CD in Besitz zu übernehmen. Ich hörte sie. Wieder. Und wieder. Als der Suchtfaktor seine Streuung vollendet hatte, war ich Sklave dieses Albums. Und so bin es noch. Aquaserge leben in Frankreich. Wie die Musiker in der Band heißen, geht aus der Verpackung wie dem Booklet nicht hervor. Eingespielt wurden die Songs zwischen Januar und Oktober 2005, ein Track zuletzt in 2009, die Band hat die Aufnahmen selbst produziert, gemixt und gemastert und 2009 für den kommerziellen Verkauf herstellen lassen. Gegliedert in "Un & deux" sind 10 Stücke auf der 63 Minuten langen CD enthalten. Im ersten Hördurchgang gingen zuerst die psychedelischen Motive auf, doch da schon machten die Jazzrock-Fusion-typischen Strukturen auf sich aufmerksam. Was die Keyboards hier an disharmonischer Arbeit leisten, ist allerfeinstens, von großer Inspiration und handwerklichem Kunstverstand. Wenn es jazzig wird, und das wird es überwiegend, dann werden die Songs sperrig und komplex, dezente, aber nur dezente Zeuhl-Motive sind zu hören. Aquaserge reisen eher im Weltall von Gong umher, als sich in die Gefilde Magmas zu begeben. Kompositorisch fährt die Band fast stetig erlesenste Qualität auf. So mancher Song braucht einige Durchläufe, um seine radikale Grandiosität zu entdecken. Dazwischen sitzen pseudoeingängige Tracks, deren süße Lieblichkeit in wirksamer Rockheftigkeit aufgeht. Nach dem avantgardistischen "Limbes" folgt so etwa das kinderliedartige "Bulles", das naiv und lyrisch beginnt, eine schöne und schöngeistige Stimmung hat und im Kinderzimmer gespielt werden könnte, bis im Anschluss das "Aqua-Instrumental" über 10 Minuten lang freie Radikale ausspuckt und außerordentlichen Jazzrock genießerisch entfaltet, nachdem das fast eine Minute lange Intro der Verspieltheit des vorherigen Tracks nachdämmert. Blödeste Idee ist daraufhin "Welcome". 2:22 Minuten lang, klingt es wie ein Früh-Gong-Track, den die Band wegelassen hatte, weil er zu stupide war. Punk und Garage machen den Psychedelic Overkill, dessen Eindruck zum Glück schnell wieder vorüber ist und von guter Musik verschüttet wird. Die acht Minuten von "La femme de Tahiti" beginnen wie Sixties-Filmmusik, spannend, komisch, rockig, wie eine Blaupause von Rockmusik, bis sich das Stück alsbald hervorragend entwickelt, seinen ursprünglichen Charakter jedoch nicht ablegt. Die beiden letzten Tracks sind fast komplett instrumental: 18 Minuten außerordentlich eigenwilliger Psychedelic Space Jazzrock, der hier mit Weltall-Sounds in die Gehörgänge bohrt und dort freakige Extravaganz aufmacht, und schließlich ganz in der komplexen Melodiesprache aufgeht, die Jazzrock in seiner besten Zeit (vor allem in Frankreich und Europa) zu bieten hatte. Vielfältige avantgardistische und experimentelle Passagen mischen sich in das brodelnde Rockgebräu, diese Band mag keine Grenzen, schon gar keine kreativen.

Volkmar Mantei



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