CD Kritik Progressive Newsletter Nr.70 (11/2010)

Mike Keneally & Marco Minnemann - Evidence of humanity
(50.52 + DVD: 54.54 + 39.39, Exowax, 2010)

"Evidence of humanity" enthält zwei Disks. Auf der CD sind 17 instrumentale Songs zu hören, in der typischen Handschrift Mike Keneallys, abstrakt, jazztriefend, improvisativ, technisch, komplex, verrückt und in aller harschen Extravaganz von innerer Harmonie und lyrischer Songeigenschaft. Marco Minnemann und Mike Keneally ergänzen sich gleichwertig, beide sind exzellente Handwerker, technisch erstklassig versiert und kompositorisch inspiriert, die mit eindrucksvoller Leichtigkeit die 51 Minuten der CD locker und straff zugleich mit energischer, satter, kerniger und komplexer, schier verrückter Rockmusik füllen. Nur um das festzustellen: Genres finden keine Entsprechung. Prog? Nix. Jazzrock? Nicht wirklich. Avantrock? Mhm! Alles dies und nichts davon. Kunst im wahrsten Sinn des Wortes, inspiriert, herzhaft und würzig, knallhart und frisch, hier witzig, dort melancholisch, hier fetter Rock, da swingender Jazz. Prog-Süchtige mit Sinn für ausgefallene Klänge dürfen sich die Finger lecken. Und das ist noch nicht alles. Da ist noch eine Scheibe. DVD Part 1: Gut zu sehen und hören, wie konkret die Session, die gemeinsame Improvisation ist, wie ein Thema sich dabei verliert, während ein anderes erstaunlich differenziert ausgebaut wird. Die DVD mit dem Improvisations-Duo ist mindestens ebenso wertvoll wie die CD mit den detailliert ausgebauten Studiosongs, die in ihrer jazztriefenden Komplexität trotz aller markanten Eigenschaften immer auch einen lebhaft improvisativen Eindruck machen. Mike Keneally hat Zappa im Blut, das beweisen seine exklusiven Gitarrensoli und das beweist sein Gespür für energische Songs und wilde, freie Instrumentalorgien (in denen Marco Minnemann mit seinem besonderen und für alles Vertrackte aufgeschlossenen Taktgefühl und handwerklich hinreißend geübten und begabten Spiel Mike Keneally auf Augenhöhe begleitet, während Letzterer im stürmischen Improvisationsgeschehen zur Gitarre die Keyboards bedient, die auf dem engen Raum des Containerstudios gleich neben ihm stehen, und dual denkt: im selben Moment spontan die Melodielinie auf der Gitarre parallel zur Tastenbegleitung denkt und spielt [im Extrabild daneben, Keneally am Bass, das Gitarrensolo weiterführend]: ein wahrhafter Meister, schlicht im schwarzen Shirt, den Blick ins Innere gerichtet). Mindestens ebenso inspiriert und nicht weniger handwerklich gewitzt sind seine Keyboardsoli, während derer die Gitarre hinter ihm am Verstärker steht. Die Improvisation des Duos beginnt im harten Rock, wird zu Jazz, schließlich zu harscher Avantgarde, kreist sich in zart ambiente Lyrik ein, aus der sie mit Energie und Wucht zu neuen Themen kratzig energisch ansetzt. Gewiss sind da diverse zappaeske Motive zu hören, viel mehr jedoch keneallyeske Merkmale, die nur der Handschrift dieses Mannes entstammen können. Das Duo spielt 53 Minuten pausenlos durch, im Abspann ist im Schnelldurchlauf zu sehen, wie die mit drei Kameras aufgenommene Session auf der DVD aus mehreren Teilen besteht, die geschickt und perfekt zusammen geschnitten worden sind. DVD Part 2: Marco Minnemann und Mike Keneally auf dem Rücksitz eines Autos auf der Fahrt über den südkalifornischen Salzsee. Das Auto wird gefahren, hält, wird weiter gefahren, hält wieder, durchfährt eine Grenze und weiter geht es durch grellheiße Landschaft. Die Kamera hat Mike Keneally und Marco Minnemann stets im Blick, geht nur an der Grenzdurchfahrt kurz zur Kommunikation mit Grenzbeamten und hat dann wieder das Duo im Blick, die 39 Minuten lang über Minnemanns Entwicklung und beider Arbeit reden, über musikalische Gemeinsamkeiten, handwerkliche sowie kompositorische Ansichten und darüber, wie das Duo zusammengekommen ist. Der Name Keneally findet mit "Evidence of humanity" seine beste Präsentation, der Name Minnemann nicht minder. Besondere Empfehlung!

Volkmar Mantei



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