CD Kritik Progressive Newsletter Nr.70 (11/2010)
In Lingua Mortua - Salon des refusés
(44:40, Termo Records, 2010)
Die progressive Musikkultur durchläuft stets aufs Neue ihre Erneuerung durch das Ausprobieren vielfältiger Experimente. In Lingua Mortua sprechen im Shining-Nachgang schon vom Blackjazz-Genre. Progressive Rock, Black Metal und Jazz-Typica werden wie Atomteilchen aufeinander geschossen und gehen eine aggressive, explosive Mischung ein, die Ausdruck, Kraft und Energie genug für ein paar Alben hat. Die Songs sind laut. Die maschinengewehrartigen Gitarrenattacken, brutal hart und düster gebrüht, werden vom brachialen Schlagzeugsound unterstützt, der heftig und komplex trommelt, dabei stets auf fetten Groove setzt und in Begleitung des Basses für deftigste Tieflage sorgt, die Genrefreunden allerfeinstens gefallen wird. Genreüblich ist der Informationsüberfluss. Nicht nur, dass viele Instrumente viel Sound bauen, nicht nur die metallische Lautstärke und rhythmische Brutalität, auch die soliden Soli und harmonischen Melodieübungen setzen sich ins Feld und lassen sich vom schweren Sound darüber nicht verwischen. Im Gewittersturm eines Songs kann es passieren, dass ein Saxophon sich mit hoher Anstrengungsbereitschaft ins Geschehen schmeißt und ein fast John Zorn - artiges Solo rotzt. Im Untergrund schwelgt das verblüffend ruhige Mellotron, was den Songs Raumtiefe und Lyrik gibt - und den Unterschied zu "normalen" Blackmetal-Bands, die zudem nicht so komplex komponieren. Die Sangeskunst strebt aus dem Hardcore-Erbe hervor, düster gepresster Schreigesang kratzt die Texte in die Songs. In aller stürmischen Brachialität gibt es echte Lyrik - nachdenkliche Passagen, exklusive Melodiearbeit, hinreißende Intros, wunderschöne Soli, die sich dem wuchtigen Gewitter nicht ganz entziehen können und wieder vom Donnergebrüll eingefangen werden. Insgesamt überfordert der deftige Sound wohl jeden an progressiver Musik interessierten Hörer, der Metalhärte nicht erforschen mag. Mit üblichem Prog Metal hat "Salon des refusés" im Übrigen nichts zu tun. Die skandinavische Mannschaft an den Instrumenten hat technisch brillante Arbeit geleistet, die Songs sind dynamisch und lebhaft, virtuos und in aller Aggressivität und Lautstärke nachvollziehbar harmonisch und melancholisch. Aus wohl nicht völlig sich unterscheidenden und gleicher Inspiration erliegenden Lagern kommen die Musiker des Bandprojektes: Wobbler, White Willow, Shining, Thunderbolt, Urgehal, Ásmegin, Xploding Plastix, Angst Skvadron, Finn Corea, Jaga Jazzist, Motorpsycho, Kvist. Die Texte der 11 kunstvollen Songexperimente orientieren sich an Nietzsche, Pollock, Munch und Rubens, die Nennung des direkten musikalischen Einflusses legt weite Fundamente: King Crimson, Univers Zero, Yes, Magma, Miles Davis, Goblin, Kraftwerk, Led Zeppelin, Black Sabbath, Darkthrone, Burzum, Santiago De Murcia, Mussorgsky, Ligeti - weitere. Da sind große Ideen gewachsen, die Kraft und Saft haben. Eine Reflektion auf den wachsenden Mainstream in der progressiven Musikkultur, der sich sträubt, eingängig und niedlich zu sein, dafür mit enormer Energie und stürmischem Krach an das Nervenkostüm geht. Meisterhaft!
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2010