CD Kritik Progressive Newsletter Nr.70 (11/2010)
Yugen - Iridule
(48:51, AltrOck, 2010)
Nach dem grandiosen Einstand "Labirinto d'acqua" (2006) und der Reminiszenz "Yugen plays Leddi" (2008) meldet sich die multinationale R.I.O.-Kapelle Yugen überzeugend und ausdrucksstark zurück. 11 neue Kompositionen, wovon vier ambient-lyrische Minimalismen mit zart weiblichem Gesang sind, die, nicht weniger ansprechend komponiert, zwischen den großen komplexen Stücken wie berückende historische zwischen neuer Architektur stehen, zeigen Yugen erneut von kluger, äußerst begabter Seite. Das 19-köpfige Ensemble beweist seinen ausgeprägten Sinn für ausgefallene Kompositionen, die Stilmittel aus Progressive Rock, Avantgarde, R.I.O. und Neuer Musik so locker, herzhaft und kräftig verbinden, als sei diese Schule ein alltäglich heiß umkämpfter Kriegsschauplatz, von allen Künsten und Künstlern begehrt. An Instrumenten ist dabei, was das Herz des Avant Prog Freaks begehrt. Nach dem fabelhaft schockartigen Intro "On the brink", das schon mal Genuss-Enzyme im Hirn aufmacht und wie dramatische Univers Zero wirkt, schließt sich das virtuose "The scuttle of the past out of the cupboards" an, dessen Basis sich aus Vorbildern wie Gentle Giant und Thinking Plague speist - was auf der CD des Öfteren wiederkehrt - und gut integriertes Marimba-Spiel präsentiert - und auch die Mallets kommen vielfach wieder! Henry Cow und Frank Zappa sind weitere Inspirationsgeber, ebenfalls die für ihre dramatischen, radikalen Werke bekannten Komponisten György Ligeti, Iannis Xenakis und Conlon Nancarrow. Yugen arbeiten vollständig Jazz-frei, ihre Avantgarde ist klassisch, europäisch, streng komponiert, von rhythmischer wie melodischer Komplexität, in der improvisative oder emotional geprägte Läufe oder Soli keinen Platz haben und der höchste Ausdruck abstrakter Harmonie in radikal virtuosem Spiel aufgeht. Dennoch und zugleich ist die Musik hochemotional, die extreme Komplexität der Themen bedarf der höchsten Konzentration und perfekten Übung der Musiker, die sich so knietief in die Songs eingespielt haben müssen, dass sie jede Komponente mit der notwendigen Energie, Rasanz, Sensibilität und Kraft spielen können. Diese Vertiefung in die theoretische (Noten) wie praktische (Ausübung) Musik wirkt wie ein Strudel, der die Musiker süchtig nach ihrer Arbeit macht und sie auf eine Art emotional fesselt, die kaum vom Publikum oder dem geneigten Fan in seinem Wohnzimmersessel auch nur annähernd so nachvollzogen werden kann. Praktisches Musizieren findet auf hohem, intensiven Niveau statt; Fan-Hören kann so tief kaum in die Musik eintauchen, zumal der praktische Musiker für dieses Album intensiv an den Kompositionen gearbeitet hat, hingegen der Hörer diese CD szenetypisch mit vielen anderen teilen muss, die seine Aufmerksamkeit und Hingabe zerpflücken und zerstreuen, statt sie zu konzentrieren - was gewiss unterstützende Ursache dafür ist, dass diese Art Musik keine riesigen Erfolge feiert: potentielle Hörer und Fans sind überfüttert, reizüberflutet, andere stoßen sich an der stilistischen Orientierung. So wird das Publikum klassischer Musik die elektrischen Instrumente ablehnen, wohingegen die größere Menge des an progressiver Rockmusik Gefallen findenden Hörers entweder von der Komplexität der Musik überfordert ist oder sich lieber an altbekannten Genesisiaden erfreut. Würde Frank Zappa noch leben, wäre er wohl ein begeisterter Fan der Band (wenn denn von Frank Zappa als 'Fan' die Rede sein kann), und so sind es wohl zuerst seine Freaks, die Yugen und "Iridule" verstehen und nachvollziehen können und wollen. Zu Yugen gehören nunmehr Dave Kerman, Guy Segers, Elaine Di Falco, Dave Willey und Mike Johnson, Markus Stauss, Peter Schmid, Simone Beneventi, Giuseppe Olivini, Maurizio Fasoli, Valerio Cipollone, Giacomo Cella, Elia Mariani, Paolo Botta, Michele Epifani, Francesco Zago, Tommaso Leddi, Enrica Di Bastiano und Alberto Roveroni - keine der involvierten Personen wird mit der Veröffentlichung "Iridules" wirtschaftlich reich werden, aber glücklich und, ja, stolz darauf, an diesem feinen Kunstwerk beteiligt gewesen zu sein und zu einer Avantgarde zu gehören, der Zeitgeist, Pop und eingängige Alltagsmusik abhold ist. Beim Hören kam mir einmal der schale Gedanke, dass Yugen hier alles so perfekt zusammenbauen, wie es von moderner Musik verlangt wird, die eine neue Avantgarde anstrebt und jede Komponente integriert, die dazu notwendig ist: Mallets, Bläser, Rockinstrumentarium, zunehmend akustisches klassisches Instrumentarium. Den Hörer fordert, ihm aber auch schmeichelt. Die bestmögliche und alles Notwendige berücksichtigende Musik präsentiert. Doch die hohe Qualität der Kompositionen und die herzhafte Einspielung der grandiosen Arrangements in ihren Wechseln aus dramatischen Höhen, düsteren Tiefen, rhythmischen Eskapaden, gemetzelartigen Fragmenten und lasziv schwebenden Tönen will nicht zuerst gefallen, dafür ist sie zu komplex, streng und ernsthaft, sondern sich selbst die höchste Intensität abringen, sich - und ihren Hörern - beweisen, dass Musik, Rockmusik, Avantgarde, Neue Musik unendlich ist und dass trotz aller Fülle in dieser wie in allen heutigen Musikszenen erstklassige Kunst immer noch möglich ist.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2010