CD Kritik Progressive Newsletter Nr.69 (07/2010)

Judge Smith - Curly's Airships / A songstory by Judge Smith
(73:00 + 71:00, Masters Of Art, 2009)

Judge Smith war Mitbegründer von Van der Graaf Generator und schrieb neben Peter Hammill auch einige der frühen VdGG Songs. Dass er gegen den großen Selbstdarsteller PH keine Chance sah, sich zu behaupten und folgerichtig ausstieg, kann man nachvollziehen. Mit der Solokarriere hat es allerdings nie wirklich geklappt bei Judge, der über viele Jahre "im Untergrund" arbeitete, somit regelrecht von der Bildfläche verschwand und erst mit diesem Werk, an dem er fast sieben (!) Jahre lang arbeitete, mal wieder - leider nur viel zu kurz - wahrgenommen wurde. Es ist ein mutiges, fantastisch recherchiertes Gesamtkunstwerk, das zwischen den Stilen "schwebt" und inhaltlich vor allem eine durchaus humorvolle Abrechnung mit der Britischen Gesellschaft der 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts darstellt. Für seine Songstory holte sich Judge neben seinen früheren Mitstreitern Hammill, Banton und Jackson noch Arthur Brown (genau der: "Fire") und eine Reihe weiterer interessanter Mitwirkender, teils für Gesangsparts bestimmter Protagonisten, teils für eine sehr variabel ausfallende instrumentale Begleitung. Und um es vorweg zu nehmen: die Vielfalt tut dem Album ausgesprochen gut. Vorab gilt es noch erwähnen, dass ursprünglich geplant war, das Stück ähnlich einem Musical als Bühnenstück aufzuführen, was leider mal wieder an finanziellen Problemen scheiterte. Essenziell ist außerdem das Wissen um die Website "curlysairships.com", die eine wahre Fundgrube für Interessierte an Judge, seinem Werk und allen Details rundherum (u.a. aufschlussreiches Interview, Sound-Samples etc.) ist und das Booklet der Doppel CD zumindest teilweise ersetzt, aber auch sinnvoll ergänzt. Überhaupt ist ohne das Booklet nur eingeschränktes Verständnis der Story, ihres Aufbaus und ihrer musikalischen Umsetzung möglich. Aber, was sage ich: es sind ja gar zwei Booklets ("Libretto" und "Notes"), die den Zuhörer durch Lyrics, technische Beschreibungen, Erläuterungen des Komponisten in sprachlicher wie historischer Hinsicht, Hinweise zu Idee und Komposition (u.a. musikalische "Leitmotive") und nicht zuletzt durch Fotos bereichert. Und da die Booklets der Schlüssel zum Werk sind, möchte ich wegen der Fülle des Materials und vor allem, um niemand ernsthaft Interessiertem die Vorfreude und Spannung zu nehmen, auf all diese Aspekte an dieser Stelle nicht näher eingehen. Zum musikalischen Inhalt des Konzeptalbums sei gesagt, dass es sich durch seine vielen verschiedenen Stilarten, die aber ohne Brüche in den Ablauf integriert sind, nicht in eine der gängigen Schubladen stecken lässt. Selbst die grundsätzliche Einschätzung, ob es sich zumindest überwiegend um Prog handelt, möchte ich dem individuellen Gehör überlassen. Progressiv ist zumindest das Konzept und die musikalische Umsetzung - unabhängig vom Stil. Ich gebe zu, dass ich mich anfangs wegen der Mitwirkung von PH als Gastsänger für das Album interessierte, doch bereits nach dem ersten Hördurchlauf war ich derart von dem Gesamtwerk fasziniert, dass ich völlig vergessen hatte, was eigentlich Hammill's Beitrag gewesen war. Judge's Stimme - er singt als Curly die Hauptrolle - ist angenehm, trotzdem markant und durchaus wandelbar. Aber auch dieses Prädikat ist eine individuelle Geschmacksfrage. Sicher ist nur eines: Wir haben es hier mit einem einzigartigen, außergewöhnlichen Stück Musik zu tun, welches in seiner Gesamtwirkung durch ein von A bis Z durchdachtes und sehr stimmig umgesetztes Konzept besticht. Entweder man geht als Hörer ganz darin auf (und das ist viel, viel mehr als "Gänsehaut") und kann sich - so wie ich selbst - gar nicht mehr davon trennen, oder man findet es möglicherweise einfach nur langweilig und von insgesamt 143 Minuten Spielzeit vielleicht nur 10 bis 15 Minuten ansprechend. Also: wer traut sich? Wem es gelingt, "Curly's Airships" für sich zu erschließen, der wird für seine investierte Zeit reich belohnt. Das Internet öffnet die Tür...auch zum Online-Kauf der Doppel-CD, die ich allen an Kunst Interessierten nur wärmstens empfehlen kann. Ein absolut einzigartiges Sammlerstück!

Jürgen Wissing



© Progressive Newsletter 2010