CD Kritik Progressive Newsletter Nr.67 (12/2009)

Jon Lord - Windows
(48:54, Purple Records, 1974/2009)

Ohne Zweifel ist "Windows" Jon Lords wohl avantgardistischstes, wildestes, jazzigstes Werk. Es wirkt unkonzentrierter, weniger komponiert und fest strukturiert, ja seltsamer als "Sarabande" oder die "Gemini Suite", ist ein unruhiges Werk mit vielen, lose scheinenden Facetten, das zwischen Klassik, Neuer Musik, Jazz und hartem Rock wechselt. Kaum zu glauben, dass das wirre, schwere Werk, dessen stilistische Struktur beständig umschlägt, völlig unstet ist, öffentlich gespielt und aufgeführt worden ist. Die Musik ist schwer, komplex, überschwänglich, nicht unter einen Hut zu bringen, geradezu unzugänglich. Bis sich in der avantgardistischen Schale der virtuose Inhalt zeigt, der die vielen Fäden der ausführlich episch angelegten Kompositionen vereint. Teil eines des am 1. Juni 1974 im Herkules Saal der Münchner Residenz aufgezeichneten Konzertes ist "Continuo on B.A.C.H.", eine Komposition aus der Zusammenarbeit von Dirigent Eberhard Schoener und Jon Lord. Die klassischen Musiker und die Rockband sind anders verzahnt als auf den anderen Jon Lord Werken, alles geht weitaus intensiver ineinander über. Manches klingt etwas unausgegoren, partiell etwa das Schlagzeugspiel Pete Yorks, das einem langen klassischen Part jazzigen Swingrhythmus unterlegt, oder das erste Trompetensolo George Morrisons, das aus klassischer Struktur in Jazz erwächst, was es später noch einmal macht und dabei fast falsch gespielt klingt, als Umbruch aber gewiss so gedacht war. Die beiden Komponisten nehmen Bach-Themen auf und strukturieren sie nach eigenem Ermessen um, das kommt teilweise ganz gut, wirkt hier und da etwas, mit Verlaub, frech und schamlos, und wird konservative Klassik- und Bachfans die Nase rümpfen lassen, wenn jene in den Genuss dieser Klänge kommen sollten. Insgesamt ein krachlautes, wildes Stück Musik, das mir ungemein gut gefällt und mit Deep Purple, trotz der Anwesenheit und Mitarbeit von David Coverdale und Glenn Hughes, die beide hoffnungslos überfordert (und verwirrt) wirken, nix gemein hat. Das noch weitaus heftigere "Window" im Anschluss, dreiteilig, hat Freejazz, Neue Musik, Blues und Jazz, harten Rock und lässige Motive vereint. Wieder war Eberhard Schoener in zweien der drei Teile als Mitkomponist im Boot, und nicht nur als Dirigent. Die ersten Sekunden sind schräg zum Ohrensausen, genau der Stoff für Avantgarde-Süchtige wie VM, aber nur kurz, dann wird ein langes jazziges Bluesthema daraus gezogen, das sich nach und nach wieder ins Radikale umwandelt und den mitarbeitenden Musikern allerhand Konzentration, technisches Handwerk und fröhliche Toleranz - was den stilistischen Anteil des jeweils anderen musikalischen Lagers betrifft - abverlangt und bei manchem Musikfreund wohl nur auf unverständliches Kopfschütteln stößt. Operngesang trifft auf Soul, die Dame duelliert sich mit der elektrischen Gitarre, dazu ertönt allerlei Perkussion, die Blues schmetternde Rockband und schließlich die Streichertruppe. Abgefahrenes Stück Musik, reichlich schräg und grandios cool! Die Rockband wird nie richtig hart, psychedelische Momente übernehmen im dritten Part die Führung, schließlich das romantische Orchester, das ein filmmusikartiges, spannendes Motiv spielt, in der typischen Handschrift Jon Lords, ganz 1970er Jahre, in dem es hier und da Passagen seiner anderen Werke zu hören gibt. Im letzten Part, der mit einem ausgedehnten Schlagzeugsolo beginnt, wird es wieder wilder und schräger. Orchester, Band, Operndiva, Rockband, alle haben ihre Partien und vereinen und trennen sich wieder, noch einmal wirkt vor allem die Rockband zerfahren, improvisativ, ungesteuert, bis ein weiteres Schlagzeugsolo all das beendet. Danach fährt die Band lustigen Rock'n'Roll auf, das Orchester geht ein forsches Motiv an, das sich mit der wieder ernsthafteren Band vereint und Jon Lords Orgel zum Zug kommen lässt, die weitgehend unterpräsent war bislang. Vermutlich hat nicht die Hälfte der involvierten Musiker die ungewöhnliche, schier unnahbare Struktur der Musik insgesamt erkannt, obschon ein Jeder sein Bestes gegeben hat und das spröde Werk sich zuletzt doch noch lebendig, wenn auch DNA-verworren, zeigt. Nach knapp 49 Minuten ist der klassikrockschwangere Wust durchgezogen, das Werk getan. Spezialisten irritierend schräger Klänge jenseits des Mainstream dürfen sich auf den neu remasterten Klang freuen, der so kraftvoll und dynamisch klingt wie nie zuvor.

Volkmar Mantei



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