CD Kritik Progressive Newsletter Nr.65 (05/2009)

Univers Zero - Relaps / Archives 1984 - 1986
(70:14, Cuneiform Records, 2009)

Also wirklich - haben die bescheuert ausgesehen in den 1980ern! Mit ihren vergewaltigten Haarschnitten scheinen Christian Genet (b), Dirk Descheemaeker (cl, b-cl, ss) und André Mergenthaler (cd, as) ganz im Zeitgeist des Jahrzehnts angekommen zu sein. Lediglich Jean-Luc Plouvier (keys) und Daniel Denis (dr) zeigen einen kastrierten Rest Langhaar, Plouvier auf der letzten Bookletseite auch nicht mehr. Gott sei Dank ist diese Un-Mode heute vorbei: der Hass auf lange Haare und alles Freakige des vorherigen Jahrzehnts. Abgesehen davon ist das, was die Band in den popverseuchten 1980ern zu Gehör brachte, wohl so ziemlich das Beste, was diese öden Jahre zu bieten hatten. Auf "Relaps" sind die musikalischen Radikale völlig losgelöst, donnern und wummern in einer Intensität, die unbeschreiblich ist und mit ihrer Amplituden sprengenden Leidenschaft sofort in den Bann zieht. "Relaps" ist kein neues Material der belgischen Chamber-Rocker, es enthält aus Daniel Denis' Archiv geholte Liveaufnahmen. Live auf der Bühne hat die Band extrem viel leidenschaftlicher und radikaler gerockt als im Studio, diese Versionen sind unfassbar und einfach zum Heulen! Wäre allein das zehnminütige "Présage" auf der CD, das Teil wäre Pflicht. Aber es gibt viel mehr! Die ersten drei Tracks wurden am 31. März 1984 im Pavillon im deutschen Hannover aufgenommen. Es folgt mit "Ligne claire" ein kurzes Stück aus Belgien im gleichen Zeitraum, das über zwölf Minuten lange "Emanations" wiederum aus Deutschland, auf dem Frankfurter Jazz Festival 1986 mitgeschnitten, als ich noch hinter dem verfluchten Iron Curtain auf den politischen Exitus der Stalinistenhorde warten musste. Wiederum drei Tracks wurden am 09. Oktober 1985 im Centre Culturel De Seraing in Belgien verewigt. Der restaurierte Klang der exzellenten 70 Minuten hat zwar einige kleinere Macken, hin und wieder klingt ein Schlagzeugbecken überpegelt, zeigt sich eine, ja, "Staubigkeit", ist eine gewisse Blechernheit wahrzunehmen. Dennoch ist der Klang ausgewogen, hat Bässe und Höhen, ist relativ sauber, hat Druck und Dynamik, macht laut und leise guten Eindruck. Und mal abgesehen vom Klang, egal, wie der wäre (und er ist verdammt gut!): die Aufnahmen sind eine Entdeckung! Kein Univers Zero Album seit den frühen 1990ern kommt hier mit. Keines. Nie wieder war die Band so frei und hart zugange. "Relaps" setzt Maßstäbe, was Intensität und Radikalität angeht. Die Soli: es scheint, als wollten die Cellisten ihre Instrumente zersägen, die Härte der Töne, die Leidenschaft der wilden Spielweise, die Tiefe der Stille in melancholischen Abgründen, die melodische Schräglage, lang ausgekostet und herzhaft betont - sollen die sich doch den Kopf komisch scheren, wenn sie nur diesen Sound spielen. Als seien sie in Trance entrückt, ganz in der Musik aufgegangen, der Welt enthoben, diese Aufnahmen zeigen, was im Chamber Rock, in der Rockmusik überhaupt geht. Und wie selten dieser Höhepunkt erreicht, überhaupt angestrebt wird. Wenn das Material auch von verschiedenen Orten, verschiedenen Konzerten stammt (was gut zusammengemixt wurde und nicht auffällt) und Appetit und unendlich neugierig auf viel mehr von Daniel Denis' grandioser Band macht, so sind diese 70 Minuten schon mal ein feiner, exzellenter Einblick in eine versunkene Zeit, die enormen Möglichkeiten radikaler, erregender Rockmusik. Pflichtprogramm. Ach ja, zur Musik gibt es ein dickes Booklet mit vielen schrecklichen Bildern und informativem Text.

Volkmar Mantei



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