CD Kritik Progressive Newsletter Nr.63 (09/2008)

Canvas Solaris - The atomized dream
(47:27, Sensory, 2008)

Das vierte Werk der in Georgia ansässigen Band Canvas Solaris beginnt eingängiger, harmonischer, sanfter und lyrischer als jedes Album zuvor. Und aus den hochkomplexen Energieschüben kehrt die personell neu bestückte Truppe wieder in nachdenklich-weiche Soundlandschaften zurück. Zu Nathan Sapp (g) und Hunter Ginn (dr, perc) sind Chris Rushing (g), Donnie Smith (synth, keys) und Gael Pirlot (b) gestoßen, dem bisherigen dritten Mann des ehemaligen Trios, Ben Simpkins, dankt die Crew auf dem Innencover, und vermisst ihn bereits jetzt. Das ist, was die acht Tracks betrifft, jedoch nicht angezeigt, die frische Besetzung steht der alten in nichts nach. Keine Frage, Ben Simpkins ist ein sehr begabter, technischer Instrumentalhandwerker, der ideenreich die vitalsten und kompliziertesten Kompositionen locker und dynamisch zu spielen wusste. Seine Nachfolger sind technisch und stilistisch von der gleichen Baustelle und führen seine Arbeit kongenial fort. "The atomized dream" beginnt fast schon minimalistisch schlicht. Opener "The binaural beat" erinnert an 80er Jahre King Crimson und führt die neue Besetzung relativ eingängig vor. Erst mit dem zweiten Track "Reflections carried to mirror" entfaltet sich der Canvas Solaris typische Härte- und Komplexgrad voll und prächtig, was in den kommenden Songs stets und immer wieder bis zum faszinierenden letzten Track, der zehnminütigen Komplexorgie "The unknowable and defeating glow", als bestimmender Faktor auftritt. Aus den heftigen Parts der rein instrumental aufgebauten "Songs" bricht die elektrische Energie häufig ins Akustische ein, daraus Kraft zu schöpfen und erneut vital hochzufahren. Wieder einmal grandios, was Canvas Solaris hier treiben. Wo nur haben die stets diese grandiosen Ideen her? Besonders in "Chromatic dusk" erweitert sich der technische Aufbau der Kracher in Richtung 90er Jahre King Crimson, hin und wieder etwas weniger komplex, mit hoher rhythmischer Finesse, weniger brutal hart aufgedrehten Gitarren und akustischen Gitarrensoli auf elektrischer Basis. "Heat distortion manifest" federt den extremtechnischen Metalanteil mit ambienten Sounds ab, die in zarten Synthesizer-Soli lang ausgeführt werden, und woraus schließlich wieder die extreme technoide, unisono gespielte Komplexexplosion wird. "Solar droid" ist einer der extremsten und experimentellsten Stücke der CD. Canvas Solaris inszenieren hier einen geradezu zappaesken Humor in ihren orgiastisch aufgedrehten, pausenlos rhythmische Brüche und Wechsel zelebrierenden Radikalideen. Höhepunkt ist dann das bereits genannte "The unknowable and defeating glow", das schließlich wieder in extreme Gefilde vorstößt, rasante und unglaublich versiert gespielte rhythmische Brüche und dynamische Sprünge in harmonischer Erregung auffährt, sich aber auch Zeit für Entspannung lässt. Canvas Solaris stehen stilistisch mit so unterschiedlichen Bands wie Behold The Arctopus, Spastic Ink, Foe, Pyopus, Martyr, Dysrhythmia und Dillinger Escape Plan auf einem Level. Es geht um die Machbarkeit der technisch extremsten Komplexität, um die Spielbarkeit der abgefahrensten rhythmischen Ideen und radikalsten, schnellsten Läufe. Was diese genialen Bands hier erfinden, ist tonaler Wahnsinn für Fans der Extreme im Prog / Metal - Bereich.

Volkmar Mantei



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