CD Kritik Progressive Newsletter Nr.61 (01/2008)

Radiohead - In rainbows
(42:35, Privatpressung, 2007)

Vieles ist über "In Rainbows" geschrieben worden, bevor es überhaupt veröffentlicht wurde. Das hat sicher etwas mit dem ungewöhnlichen Vertriebsweg, dem ungewöhnlichen Marketing zu tun, das die Jungs von Radiohead gewählt haben. Ohne hier zu weit auf das Pro und Kontra dieses Experiments (oder dieses neuen Vertriebsweges?) einzugehen, möchte ich nur die Fakten zusammentragen, dass Radiohead das Album zunächst nur im Internet als MP3 (160 KBps) veröffentlicht haben und die Downloader selbst bestimmen konnten, ob und wie viel sie für dies zahlen wollten. Gleichzeitig bestand die Möglichkeit eine exklusive Sammleredition ("Discbox") vorzubestellen (VÖ. 3.12.2007), bestehend aus dem Album auf CD, als Download und in einer Doppel-Vinyl-Fassung desselben. Ferner beinhaltet die Discbox eine enhanced Bonus-CD mit weiteren Audiotracks, Photos und Artwork; dazu gibt es Artwork-und Lyrics-Booklets, das alles aufwendig verpackt £40.00. Anfang 2008 wird das Album auch im regulären Handel erhältlich sein. Dieser ungewöhnliche Vertriebsweg sorgte für viel Aufmerksamkeit, Bewunderung, Häme, Sympathie und Verständnislosigkeit, je nach Interessengruppe; die Band selbst hat sich bis zum Zeitpunkt dieser Rezension (Anfang November 2007) noch nicht zum Erfolg/Misserfolg dieser ungewöhnlichen Vorgehensweise geäußert. Bei so viel Medienrummel um das Wie ist fast ein wenig das Was untergegangen denn, ungewöhnlicher Vertriebsweg ohne (böse) Plattenfirma hin oder her, "In Rainbows" bleibt in erster Linie ein ganz normales Album, das mittlerweile siebte Studioalbum der englischen Postrock-Truppe um den Sänger Thom Yorke. Und wenn ich "ganz normal" schreibe, dann meine ich das durchaus so, wie man es ohne das ganze Vertriebsbrimborium verstehen würde: "In Rainbows" ist ein typisches Radiohead-Album geworden. Auf "In Rainbows" ist es vorbei mit den Experimenten (à la "Kid A", "Amnesiac"), vorbei auch die Zeit der Kommerzialisierung und der hippen Hype-Haftigkeit (à la der maßlos überschätzen "OK Computer" vielleicht ist es sogar vorbei mit der etwas lendenlahmen Lustlosigkeit, die Radiohead auf ihrem letzten Longplayer "Hail to the thief" befallen hatte, dessen Halbwertszeit deutlich unter den vorangegangenen Alben lag. "In Rainbows" bietet alles, was man von Radiohead erwartet: Weinerlicher Gesang und hübsch traurig-kryptische Texte, nett wabernde Keyboards, ein paar kecke Beats, Gitarren schräg, Gitarren clean, ein paar orchestrale Strings (aus der Dose), eigentlich alles wie gehabt. Wer geglaubt hat, dass Radiohead ohne den Zwang der bösen Plattenfirma nun alles anders macht, der muss vom Album enttäuscht sein (und außerdem war er ziemlich naiv). Immerhin: Man hört wieder mehr Gitarren (sogar akustische!), sogar echte Drums und, wer unbedingt drauf steht, konventionellere Songstrukturen (gut, die waren auf Hail auch schon wieder da), ansonsten ist es vor allem weniger: Weniger Avantgarde, auch weniger gewollte Avantgarde, weniger Experimente, sogar die Weinerlichkeit hat abgenommen. Das Motto lautet "Mehr Normalität". In der Quintessenz ist "In Rainbows" also ein solides Album, ohne wichtigere Besonderheiten (außer einem besonders scheußlichen Song: "House of Cards", der irgendwie so klingt, als ob Radiohead einen Doo Wop-Song aus den 1950ern covern wollten ohne dabei so klingen zu wollen, wie die frühen Rock'n'Roll-Bands), außer eben einem riesigen Medienrummel um den Vertrieb (nota bene: nicht ums Album!). Von "Meilenstein", "Album des Jahrhunderts", "neue Ära" und ähnlichen Superlativen, die die Rock-Gazetten-Feuilletonisten bei vorigen Alben (vorzugsweise "OK Computer" und "Kid A") von sich gaben, kann hier keine Rede mehr sein (und das tut auch niemand mehr). "In Rainbows" ist gut, besser als der Vorgänger, aber nicht bahnbrechend. Ein paar Songs auf "In Rainbows" mag ich wirklich sehr, aber das Album gibt mir keine Rätsel auf wie "Kid A" und fesselt mich nicht wie "Amnesiac", kurzum: Es haut mich nicht vom Hocker und ich bekomme auch keine Ürgsel-Attacke. Um ehrlich zu sein: Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir die experimentellen (proggigen?) Radiohead ad acta legen können. Bei der Jahresendabrechnung dürfte dieses Album fairerweise keine Rolle spielen, auch wenn es die Fan-Heerscharen und ein paar wackere Musik-Journalisten es partout anders sehen werden.

Sal Picchireddu



© Progressive Newsletter 2008