CD Kritik Progressive Newsletter Nr.61 (01/2008)

The Ocean - Precambrian / Proterozoic
(61:47, Metal Blade / SPV, 2007)

Sie haben es wieder getan. Kopfverdrehende, sich der Kategorisierung fast entziehende Musik hat das Berliner Kollektiv ja immer schon gemacht. Mit "Precambrian" und seinem komplexen Konzept, das sich mit dem ersten Erdzeitalter beschäftigt, haben sie sich - trotz durchaus auffindbarer Assoziationspunkte - doch in eine eigene Liga geschrieben. Die Digipak-CD wird übrigens mit der uns nicht vorliegenden Mini-CD "Hadean / Archaean" ausgeliefert. Zu der schreibt die Band selbst, dass sie brutaler und weniger poliert als die "Proterozoic" geheißene Full-Length-CD geraten sei. Dabei ist auch letztere beim Thema Wildheit sowie berauschten und berauschenden Melodien wahrlich nicht zu kurz gekommen. Die Musik macht die für das Präkambrium angenommenen 230 Grad Oberflächentemperamentur ebenso fühlbar, wie die Blitze, die Lavaströme und den Lärm, der geherrscht haben dürfte. Beispielsweise "Siderian" führt das Hauptthema ouvertürenhaft auf einer Surfgitarre mit viel Twang und Hall und untermalt von Percussions sowie rauchig-zartem Saxophon ein, das auf "Rhycian" in einem Wechselbad der Gefühle bis hin zu Wutschreiausbrüchen à la Neurosis durchgeführt wird. Die erlesenen Streicherpassagen erinnern bisweilen an Oceansize. Die Texte beruhen mehrheitlich auf den Arbeiten des brasilianisch-französischen "Proto-Surrealisten" Lautréamont, verarbeiten aber auch Zitate von u.a. Georg Trakl. Das Erscheinungsdatum des Albums war aus produktionstechnischen Gründen um eine Woche nach hinten verschoben worden. Wenn man sich das Booklet anschaut, ahnt man, warum. Eine solch erlesene Typo (alle Songtexte in Fraktur und mit einem wunderschönen, großen Initial gedruckt), ein so aufwändig beschichtetes Papier, einen solchen mehrschichtigen Prägedruck hat meinereiner - außer vielleicht bei Tools "Lateralus" - überhaupt noch nie bei einem Tonträger gesehen. Hinzu kommen wunderschön-gruselige Illustrationen, die teils wie extrem detaillierte Stiche aus dem 19. Jahrhundert wirken. Sie stammen von Martin Kvamme (vgl. Fantomas, Tomahawk, The Oceans "Aeolian"). "Precambrian" ist eine verstörende, verführerische Wucht von einem Album. Wer etwas für von Neurosis, Isis oder The Cancer Conspiracy über hat, sollte hier hereinhören. Wenn Avantgarde, dann so.

Klaus Reckert



© Progressive Newsletter 2008