CD Kritik Progressive Newsletter Nr.61 (01/2008)
Jason Smith - Tipping point
(66:28, Moonjune Records, 2007)
'Gewöhnlich' ist weit ähnlich verbreitet wie 'gefällig'. Die andere Seite, ungewöhnlich oder, nun 'ungefällig' passt nicht so ganz, 'harsch' könnte die gefühlte Übersetzung sein, ist oft so abstrakt, laut, schräg oder hart, dass Musikbegeisterte nicht den Nerv finden, sich solcherart Avantgarde auf Dauer zu widmen. Diese können sich auf das feine Jazz-Album "Tipping point" freuen, dessen 7 Songs am 16. Mai 2006 in der Jazz Bakery (welch witziger, cooler Name, ganz im Gegensatz zum Übersetzungsunfall der "Back Factory" in der Stralsunder Altstadt, einer Fast-Food-Bäckerei) in Los Angeles aufgezeichnet wurden. Eine Überraschung bietet die Besetzung des Trios: Jason Smith, Arrangeur dieser Songs und Jazzstandards, spielt das Schlagzeug, und hat damit Gary Husband, genau diesen Gary Husband, von dessen eigentlichem Arbeitsplatz verdrängt. Husband spielt elektrisches und akustisches Piano, und tut das allerliebst, als sei dies seine eigentliche Herausforderung und Ambition. Verblüffend sein technisches Handwerk, seine lustvollen, knappen, treffenden Improvisationen, sein dezentes und dann wieder äußerst lebhaftes Spiel, der vitale, dynamische Ton. Dritter im Bunde ist der Kontrabassist Dave Carpenter, der sonst Peter Erskine oder Allan Holdsworth zur Seite steht. Die Stücke sind ganz unaufgeregt arrangiert, haben viel Zeit für gruppendynamische Improvisationen und solistische Exkursionen. Die Einspielung hat den Songs Eleganz und Klarheit gegeben, eine gewisse kühle Nüchternheit, die im improvisativen Spiel spannungsreichen, dabei zurückhaltenden Erregungen weicht. Alle drei bestimmen das melodische Geschehen, geführt von Gary Husband, der Drive und Funk einfordert, wenn er vom akustischen Yamaha Flügel zum elektrischen Fender Rhodes Piano die Klangfarbe wechselt und Jason Smith, der für äußerst vitales, bewegtes Spiel steht, vom Jazzrhythmus zum knackigen Rock dirigiert, von wo Husband ihn mit erneutem Akustik Piano wieder zum Jazz abholt. Himmlisch Dave Carpenters tiefe Ruhe und unaufregbare Zurückhaltung, den beiden melodischen Erregungsarbeitern eine sichere Basis bietend, selbst wenn er sich aus der grundsätzlichen Komposition in die Improvisation aufmacht, und trotz hochmelodischem Spiel eine ungemeine Ruhe und lyrische Stille entwirft, die diesem mehr leisen als lauten Trio nicht nur sehr gut steht, sondern das komplette, und exzellente Klima ist. In aller vitalen Note und heißen Spielphase bleibt die Band doch stets beschwingt lyrisch. Nichts schreit, kratzt oder brüllt, jeder Ton ist artig. Aber klug, und inspiriert. Der satte, komplexe, verhaltene Rhythmus, der samtene, dunkel-romantische Bass und die akustisch-verträumten sowie elektrisch-funkigen Pianoklänge finden in "Follow your heart" (John McLaughlin), "Star bright" (Keith Jarrett) und Jimmy Webbs "Up up and away", in "Carole's Garden" (Denny Zeitlin) und "Way you look tonfight" (Jerome Kerm/Dorothy Fields) ebenso wie in der Husband-Komposition "Three lies" grandiosen Tiefgang und großartige Melancholie. Nicht für Jazzfans allein ist dies ein elegantes, inspiriertes, kluges und anspruchsvolles Werk mit großer Wirkung. Gewöhnlich und gefällig ist hier nix, gar nix. "Tipping point" ist bereits das zweite Album des Trios.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2008