CD Kritik Progressive Newsletter Nr.56 (07/2006)
Talis - Cities
(74:07, Privatpressung, 2006)
Erstaunlich, dass mir dieses Album gefällt: Diese sehr eigene Mischung aus Retro Prog, Neo Prog, Melodic Rock (allein die letzten beiden Begriffe würden mich normalerweise ins freiwillige Exil zur Mückenzucht nach Jekaterinenburg bewegen), Mainstream-Rock, Eighties-Pop, leichte Folk- und Elektronik-Elemente (!), dazu mehrstimmiger Gesang, seltsame, zumeist analoge Keyboard-Sounds und fröhlich bratzelnde Gitarren passt von den einzelnen Zutaten so gar nicht in mein Beuteschema. Von der absurden Mischung einmal abgesehen (für Absurdes bin ich immer zu haben), ist es also nicht das "Was", sondern das "Wie", das bei mir gezündet hat. Talis klauen nicht nur schamlos in der Musikgeschichte (inkl. einem fugenhaften Quasi-Bach-Zitat in Time), sie dosieren selbst ihre Hauptzutaten in veränderlichen Gewichtsanteilen für jeden Song neu, je nach Geschmack. Mit diesem Rezept entstanden elf höchst abwechslungsreiche Songs, die eben noch nach "Kansas meets Jean-Michel Jarre meets Human League" (auf Fade), dann schon wieder nach "Mostly Autumn meets Rainbow meets frühe Saga" (auf The Sky) klingen. Man hat ständig irgendwelche Deja-vu-Erlebnisse, ohne dass man die einzelnen Partikel wirklich zuordnen kann. Auf eine charmante, augenzwinkernde Art plündern Talis den Fundus der Musik und mixen Altbekanntes zu einer überraschenden und überraschend neuen Mischung zusammen. Ich bin nicht taub: Ich höre durchaus die Schwächen des Albums, v.a. der (notgedrungen) nur mäßige e-Drums-Sound ist nicht immer beglückend, wurde aber durch ein exquisites Mastering (von Eroc, der auch schon Trigon auf "Emergent" klangtechnisch aus der Patsche half) zumindest erträglich gemacht; die Gesangslinien sind auf den ersten Hinhörer immer recht ungewöhnlich (was den flüchtigen Hörer dazu verleiten könnte, dass hie und da falsch gesungen wird, was nicht stimmt), ich hätte mir manchmal weniger Schnörkel gewünscht, aber wenn man sich erst einmal in diese ganz eigene Klangwelt hineingehört hat, dann bleibt man nicht mehr daran "hängen". Den Schwächen stehen vor allem die komplexe Musikalität und die ausgetüftelten Kompositionen gegenüber, die gerade von Steffen Conrad an den Tasten variantenreich in Szene gesetzt werden. "Cities" von Talis ist das beste Debütalbum aus Deutschland, dass ich seit langem gehört habe.
Sal Pichireddu
© Progressive Newsletter 2006