CD Kritik Progressive Newsletter Nr.55 (04/2006)
Emily Hay & Marcos Fernandes - We are.
(61:36, Public Eyesore, 2006)
Ich habe in letzter Zeit nichts auch nur annähernd so Interessantes, Aufregendes und Hinreißendes gehört, wie diese Gänsehaut erregende Musik. Emily Hay (voice, fl, piccolo, p, electr) und Marcos Fernandes (perc, field recordings, electr) haben zwei ganz starke Seiten: das Aufspüren von Sounds und das Aufeinander-Eingehen in der improvisativen Entwicklung ihrer Stücke. In den Gesangsstücken scheinen die humorvolle, ausdrucksstarke und selbstbewusste Vokalakrobatik Emily Hays und Marcos Fernandes' fast schon unauffällige, zurückhaltende und wirkungsvolle Sounds wie zufällig. Doch nichts, kein Ton und keine Stille, der 12 Tracks ist zufällig, jeder Ton und jeder Klang sitzt, um das Ganze zu dem "runden" Stück zu machen, das es letztlich ist. Und trotz der detaillierten und genauesten Spiel- und Gesangsweise sind die Stücke nicht starr, wie aus Beton gefügt, sondern von ungeahnter Dynamik und einer Frische, die es zu entdecken gilt. Die instrumentalen Tracks haben statt Hays Gesang außergewöhnliche Flötensounds, Piano oder das forsche Dynamisieren der Electronics mit diversen Phonographer (=Field Recordings) - Zusätzen. Ebene Eins: Geräusche aus der Natur und der Welt der Menschen, mit dem Rekorder eingefangen und im Studio ausgesucht, geschnitten und neu zusammengefügt. Ebene Zwei: elektronische Sounds, kein melodisches Gefüge wie bei Tangerine Dream oder Klaus Schulze und Artverwandten, sondern freie, improvisative, "gefühlte" Sounds, mal nur tonale Fetzen, dann atonale "Melodien" oder Kino für die Ohren, freie, abstrakte Klänge, die in Sample-Figur ein harmonisches Ganzes ergeben. Ebene Drei: wundervolle Flöten- und Piccoloflöten-Melodien, die mal wie schlichter Folk von ganz weit draußen klingen, oder aber Jazzfiguren entwerfen. Dazu spielt Marcos Fernandes Percussions, was das Worldmusic-Flair unterstützt. Ebene Vier ist der Gesang Emily Hays. Nonverbale Melodisierung, die wie die Übung einer Opernsängerin oder eines Schauspielers klingen, aber in ihrem Zusammenspiel viel eindrücklichen und witzigen Charakter und nachvollziehbaren Ausdruck haben. Als Gäste sind in einigen Tracks Lisle Ellis (b, electr), Ellen Weller (sax, fl) und Al Scholl (g) in die intime Studioarbeit involviert gewesen. Nicht nur für die Musiker war diese Arbeit sicher eine intellektuelle Herausforderung und kreative Befriedigung gewesen. Was sich hier wie "schreckliche" Avantgarde liest, ist ein bezauberndes Märchen aus der Welt der freien Töne. Ungemein viel Schönklang, tiefe Gefühle und spannende Soundcollagen sind die Erfahrung der 12 klangtechnisch perfekten und überraschend räumlichen Tracks. Emily Hay kommt aus der "Left Coast" Szene Los Angeles', wo sie unter anderem mit U Totem, The Motor Totemist Guild, I Am Umbrella und etlichen weiteren erfolgreich gearbeitet hat. Ihre großartige musikalische Gabe hat ebensoviel Inspiration und Ausdruck wie die von Marcos Fernandes, der Mitbegründer des losen Trummerflora Collectives ist, diverse Veröffentlichungen auf seinem eigenen Label Accretions und weiteren Labels hat und vor allem für Phonographer steht. Ihre Zusammenarbeit hat mal eine seltsam witzige Ähnlichkeit zum Psychedelic, trägt hier ein Rudiment Gospel und wird am konkretesten in "Inside the Box", dem Henry Cow als Vorbild gedient haben könnte. Niemals jedoch sind die Sounds harsch oder extrem, sondern sensibel ineinander gefügt und von großem lyrischen Ausdruck. "We Are." ist eine Herausforderung an unsere Hörneugierde und ein Geschenk an unser harmonisches Empfinden. Diese freien, improvisativen Stücke befreien davon, stilistisch eindimensional hören zu wollen und können. Und das mit hohem Erfahrungs- und Unterhaltungswert.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2006