CD Kritik Progressive Newsletter Nr.54 (01/2006)
Kate Bush - Aerial
(38:17 + 42:02, EMI, 2005)
Sie ist wieder da. Kate Bush ist zurück, nicht nur nominell, sondern in Wirklichkeit. Mit einem großartigen Album: Aerial: aerial (adj.)- luftig, aerial (adj.) [bot.] - oberirdisch, aerial [Brit.] [tech.] - die Antenne, aerial [meteo.] - die Luft. Um es vorweg zu nehmen: Es ist möglicherweise ihr bestes Album und dennoch ist es nicht das genialistische Spätwerk einer großen Künstlerin kurz vor ihrem Untergang, gleich einem Schwanengesang. "Aerial" ist herausragend und stimmig; es ist eine Quintessenz, es ist sogar ein Ausblick. Auf jeden Fall ist das Album ein Resümee aus dem, was sie auf ihren vorigen Alben gemacht hat und aus dem, was in ihrer langen Abwesenheit mit ihr, in ihr geschehen ist. "Aerial" ist eine Doppel-CD mit insgesamt rund 80 Minuten Laufzeit und - nein - es ist (dennoch) keine Geldmacherei. Es sind zwei verschiedene musikalische Einheiten (mit "A Sea Of Honey" und "A Sky Of Honey" betitelt), die hier im Jewelcase zusammengefügt sind: Beide sind abgeschlossen und unabhängig voneinander, dennoch auf eine fast unwirkliche, ungreifbare Weise miteinander verbunden, und sei es auch nur über das Bindeglied Kate Bush selbst, die hier verschiedene Facetten ihrer künstlerischen Persönlichkeit zu Gehör bringt. Eine Zweiteilung ist bei Kate Bush nichts Ungewöhnliches: Beim Album "Hounds of Love", das ja noch als LP erschien (und ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern, unter welchen Umständen ich das Album als LP gekauft habe), konnte man das noch hübsch trennen: Seite A war die 'Hounds of Love', Seite B war die 'Ninth Wave'. Bon, auf "Aerial" teilt Kate ihre zwei verschiedenen musikalischen Konzepte auf zwei Scheiben auf - und es ist gut und richtig so. Ob man ein paar Kröten mehr dafür ausgibt, ist wirklich nicht relevant. Die erste CD ("A Sea Of Honey") beginnt mit dem Song, den man seit einigen Wochen schon hören konnte, "King of the Mountain", die vorab ausgekoppelte Single. Als ich sie zum ersten Mal hörte, fragte ich mich, ob dies wirklich eine Single im eigentlichen Sinne sein soll. Wenn das eine "kommerzielle" Single sein soll, dann kann man vom Album sehr viel Ungewöhnliches erwarten und auf keinen Fall jene Musik, die heute als Pop-Musik bezeichnet wird (und damit negativ konnotiert ist). Und in der Tat: Selbst wenn es dann im Verlauf der ersten CD durchaus weniger experimentell zugeht (schon der nachfolgende Song "Pi" besticht eher durch den kuriosen Text um eben die Zahl "Pi"), so richtig kommerziell und radiotauglich ist das nicht oder es ist vielleicht nur radiotauglich (bzw. wird überhaupt vom Radio gespielt), weil es von Kate Bush gesungen wird. Kurios ist "Mrs. Bartolozzi", die Geschichte der vor der Waschmaschine tagträumenden Hausfrau; andere Stücke wie "Bertie" oder das bezaubernde "A Coral Room" sind schon sehr typisch für Kate Bush. Die erste CD bestätigt mehr, als sie überrascht (trotz der "Mrs. Bartolozzi"), sie ruft in Erinnerung, sie bestätigt. Und sie bewegt sich auf einem sehr hohen Niveau, auch wenn ich zugeben muss, dass dies nicht bei jedem Song sofort beim ersten Hören deutlich wird. Die zweite CD ("A Sky Of Honey") featured eine knapp 40-minütige Suite, mit dem Höhepunkt des Albums "Aerial". "A Sky Of Honey" ist ein musikalisch wunder-voll (im Sinne von "voller Wunder") gestalteter Wolkenflug, eine Phantasie, eine Hommage an das Element Luft. Hier spricht und lacht man mit den Vögeln, hier lässt man sich von ihrer Leichtigkeit und ihren Melodien inspirieren. Die Melancholie von "A Coral Room" ist fern, "A Sky Of Honey" ist in Noten gefasste Leichtigkeit. Ohne jeden Zweifel: diese Suite beinhaltet die stärksten 40 Minuten Musik am Stück, die ich von Kate Bush jemals gehört habe. Hier verzichtet sie auf jeglichen modernen Schnickschnack (und eigentlich verzichtet sie auch schon auf CD 1 weitgehend darauf), das macht diese Suite zeitlos. Wenn man es nicht wüsste, dann könnte man sie nicht unterscheiden von ihrer Hochphase Mitte bis Ende der 1980er Jahre. Stillstand? Nein, auf keinen Fall Stillstand. Bestätigung, Neuschöpfung, Quintessenz nannte ich es oben - aber verdichtet, verfeinert. Kate hat sich Zeit gelassen mit dem Album - und dieser Reifeprozess hat sich gelohnt. Solch kompositorische Perfektion wie in der musikalischen Umsetzung der sich stetig steigernden Spannung, die dann im Titelstück des Albums kulminiert, hört man selten und kann eben nur von einer ganz großen Künstlerin vollbracht werden. Am Ende ist man wirklich abgehoben, luftig, leicht; am Ende blickt man wirklich nach vorne. Album des Jahres.
Sal Pichireddu
© Progressive Newsletter 2006