CD Kritik Progressive Newsletter Nr.52 (06/2005)
Infidel? Castro! - Part 3 Bioentropi damage fractal
(34:19 + 54:08, Crucial Blast, 2004)
Der neuste Streich fröhlicher Volksmusik aus dem Hause Infidel? / Castro! braucht zwei CDs, um die Fülle des Materials unterzubringen. Nichts hat sich an der Intention des Duos geändert. Colin Marston und George Korein testen immer noch die Spannweite von Laut und Leise aus, und sie können noch schräger, wilder, atonaler, so dass ich bisweilen glaube, einem modernen Klassiker zuzuhören, der sich im Instrumentenschrank geirrt hat. Der Spannweiten sind hier diverse. Eine weitere ist die Länge der Stücke. Die ultrakomplexen Traktate benötigen nicht viel mehr als eine Minute, um ihr erschlagendes Ziel zu finden, während sich die epischen Tonschleifen über 9 bis 20 Minuten ausdehnen (freilich nicht, ohne immer wieder ihren Teil ultrakomplexer Struktur herauszuschreien). Willkommen bei Infidel? / Castro! Sie werden in Gefilde entführt, die Sie bisher nicht mit Musik in Verbindung gebracht haben. Ihre Sinne werden verwirrt, gefangen und nach 90 Minuten in ein neues Bewusstsein entlassen. Die nächste Spannweite ist das Testen großflächiger Disharmonien. Als würde eine Kirchenorgel ihrer gewissen Explosion entgegendröhnen, so häufen und heben sich hier Tonebenen, um in metallischen Komplexorgien grandios zu erbrechen. Und inmitten dieser tonalen Finsternis, melodischen Dürre und anstrengenden Rockexplosion breitet sich eine große und fast schon balladeske, beruhigend lyrische Harmonie aus. Da rauschen harsche Keyboardtöne im Off vorbei, während im Vordergrund die elektrische Gitarre zart gespielt wird. Natürlich hält das nicht an und die Spannweite, eben noch Ausdruck großen Friedens, senkt sich in die abgrundtiefe Düsternis des Lärms hinab. Dieser Wechsel bleibt die komplette Produktion über erhalten. Um der Schärfe der Produktion einen weiteren Ausdruck zu verleihen, ist CD1 mit "Cancer" (Krebs) übertitelt, die Steigerung folgt auf CD2 mit "Decay" (verrottet). Und wahrhaft, hier scheint es kein Halten mehr zu geben. Als würden abstrakte moderne Klassik, Free Jazz und Metal einen gemeinsamen Nenner gefunden haben, so tanzt die Kapelle auf einem Vulkan wilder Noten. Das findet immer wieder harmonische, melodische Lücken, die zart und sanft ausgefüllt werden, in Teilen gar mit klassischem Instrumentarium, was einige der diversen Gäste bedienen. Und diese Lücken verschaffen sich Raum und brechen in das harsche Geflecht ein. Das klingt dann so, als wollten King Crimson, Thinking Plague und Sleepytime Gorilla Museum mit The Flying Luttenbachers und György Ligeti die Welt mit dem Klang des potentiellen 3. Weltkriegs ängstigen. Na ja, etwa so, nicht?! Und noch ein paar klangschöne Parts einbringen, als Klang der Hoffnung. Infidel? / Castro! sind gewiss kritische Menschen mit einem großen Sinn für komplexe Musik. Sie biedern sich in keiner Form ihrem Publikum an und bieten tonale Experimente, die man sonst nirgends hören kann. Solcherart hat das Gros der potentiellen Musikfreaks wohl noch nicht gehört, es sei denn, sie haben die ersten beiden Teile (!) der groß angelegten Musikstudie in ihrer Sammlung. "Case studies in nioentropy" und "The 49-day period between lives (memories and premonitions)" waren weniger harsche Vorreiter der Orgie "Part 3: Bioentropic damage fractal", aber sie zeigten auch schon sehr abgefahren in diese Richtung. Das Album ist gewiss nichts für Einsteiger in die atonale Musik, aber für Spezialisten, die vom allgemeinen simplen Lärm der meisten Produktionen dieser Art genervt sind und endlich wirkliche Qualität hören wollen. Diese Produktion ist wohl so etwas wie Progressive Noise, schwer komplex, und harmonisch wie disharmonisch vielfältig. Das kann alle befriedigen, die in tiefgehender Musik auf Sinnsuche sind.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2005