CD Kritik Progressive Newsletter Nr.52 (06/2005)
Hatfield And The North - Hatwise choice / Archive Recordings 1973-1975 Volume 1
(68:48, Privatpressung, 2005)
Und da ist sie endlich! Bereits längerfristig angekündigt, kann nun jeder Interessent diese voll gepackte CD erwerben. Hatfield And The North - ich will hier nicht auf die Geschichte der Band eingehen, das wird im umfangreichen Booklet getan, wo die einzelnen Musiker ausführlich zu Wort kommen - gehen ihre Archive an und fördern in Teil 1 viel gutes Material, fast 69 Minuten, zu Tage, Sie sind das Fleisch der Canterbury-Szene, ihre Musik ist der Horizont zwischen Komposition und Improvisation, ihr organisches Spiel ein Fingerzeig auf die grandiose Musik ihrer Zeit und... Ach Quatsch, alles Käse. Die 23 "Stücke" - viele dieser Tracks sind einzelne Parts eines größeren Teils - sind so wundervoll, dass ich gar nicht drüber sprechen kann. Welche Lust, das zu hören, welche Last, darüber nachdenken zu sollen! Die 4 Musiker der Band stammen aus dem Pool anderer großer Canterbury-Bands: Caravan, Egg, Matching Mole, Delivery - und Gong. Phil Miller (g), Pip Pyle (dr, perc), Richard Sinclair (b, voc) und Dave Stewart (key, tone generators) zeigen nicht ansatzweise Interesse an kommerziell verwertbarer Musik und spielen elektrischen Jazzrock, den man aus heutiger Sicht Jazzprog nennen kann. Sie spielen ihre Instrumente als Melodieinstrumente. Pip Pyle arbeitet sich wie ein Tiger durch das verflixt dichte und unheimlich lebendige Musik-Unterholz mit verdammt komplizierten Rhythmen und variablem Spiel. Phil Miller spielt nicht nur die abenteuerlichsten und ungewöhnlichsten Skalen, sondern führt diese auch ausgiebig aus. Richard Sinclair, dessen klare, helle Stimme auch bei Caravan zum Markenzeichen wurde, singt die reichsten, traumhaft abstraktesten und aufregendsten Gesangslinien (in den wenigen Vokaltracks) und spielt einen melodisch äußerst aktiven, eigenwilligen Bass. Und Dave Stewart, der Klassik, Blues, Jazz und Rock zum Feiwild erklärt und seine humorvollen, irrationalen Soli und Improvisationen mit Verve abfeuert, setzt sich als Erfinder der schrägsten Notenskalen durch. Diese Band hat es eben drauf... und sie rockt! Virtuos, lustvoll, "schräg", eigenwillig, verspielt. Das ist spannend wie ein fesselnder Krimi und macht Erfahrungsfreude wie das Lesen eines brillanten Buches. Und es geht voran und voran und ein perfektes Stück löst das vorherige ab! Die Aufnahmen stammen aus BBC Sessions und Konzerten. Hatfield and the North widmen die CD der Erinnerung an John Peel, der einige der BBC Sessions in seiner Show sendete (Termine sind angegeben). Wie üblich bei der Band, sind einige der Songs keine Minute lang, während andere genüsslich lange 8 Minuten versüßen. Das Album ist nicht billig, aber leicht zu bekommen. Wer Canterbury mit Herz und Sinnen ausgeliefert ist, darf sich auf fabelhaftes Material in zumeist sehr guter Soundqualität freuen - und kommt an der CD nicht vorbei. Wenn ich Kultusminister wäre, gehörte diese Musik in jede Schule, auch Koran-Schulen und Baumschulen, egal. Hauptsache, überall hin. Volume zwei, bitte kommen.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2005