CD Kritik Progressive Newsletter Nr.52 (06/2005)
Pierre Vervloesem - Rude
(69:00, Carbon 7, 2005)
Ein neues Album von Pierre Vervloesem ist stets eine große Herausforderung. Sein Name steht nicht gerade für leichte Musik. Und so, wie er es hasst, kategorisiert zu werden, so schwer ist es, ihn in einer Schublade abzulegen. Diese Musik passt nirgends, sperrt sich weit auf und saugt aus vielen Einflüssen ihre Lebensenergie. Sicher sind da Jazz, Progressive Rock, Avantgarde zu nennen. Aber hier sind das Schablonen, die nicht greifen. Dennoch hat Pierre Vervloesem seinen Stil entwickelt, finden sich auf seinen Alben bestimmte Charakteristika wieder, die für ihn stehen, die er geprägt hat und immer wieder neu variiert. Sein Gitarrenspiel ist einzigartig. Die stete Anwendung bestimmter Loops, rhythmische Überraschungen, plötzliche harte und bisweilen harsch atonale Ausbrüche und die großartigen melodischen Einfälle sind Markenzeichen, die er seit langem immer wieder auf höchst unterschiedliche Weise entwirft. "Rude" beweist seine Variabilität. Doch eines hat sich mit den Alben immer weiter kristallisiert. Pierre spielt sehr hart, nimmt seine Band ebenso hart ran und produziert einen gewaltvollen Lärm, der irritiert. Denn seine Kompositionen sind zumeist fragil bis hauchzart, unglaublich komplex verschachtelt und von psychologischer Differenzierung. Da knallen die Schlagzeugfelle, wird die komplette Keyboardtastatur mit ganzen Unterarmen traktiert und bringt er die Saiten seiner Gitarre zum überwältigenden Kreischen, während der Bass wie ein anrollendes Gewitter donnert. Die leisen Momente bemerke ich erst, wenn der Qualm des Lärms längst verweht ist, und meine Ohren dröhnen lange nach. Doch in diesen leisen Passagen findet sich differenziertes Melodiegut, wie junge Kätzchen, das will gehegt und geliebt werden. Vielleicht kann ich Pierre Vervloesems Karriere grob in 4 Parts einteilen. Dabei lasse ich seine Produzententätigkeit außen vor, das Gros davon sagt ihm nicht zu, es ist ein Job. Zuerst wäre da X-Legged Sally, mit denen er 6 unglaublich humorvolle, intelligente und grandiose, ja geniale Alben einspielte. Leider blieb der Band großartiger Erfolg versagt. Pierre sagten die, wie er meint, Bläserphantasien seines Co-Piloten Peter Vermeersch (der heute Flat Earth Society leitet) nicht mehr zu - und so war X-Legged Sally Geschichte. Daraufhin gründeten die beiden mit neuem Personal "A Group". Auch hier waren Witz und ausgeklügelt tolle Kompositionen das Markenzeichen, nach 2 Alben war wieder Ende wegen großer Erfolglosigkeit. Der 3. Part seiner Karriere sind die ersten 4 Soloalben von Pierre, die noch nicht diese Düsternis und Härte haben, wie die beiden letzten Alben unter eigenem Namen. Dennoch meinte Pierre, dass er selbst stets sehr düsteren Gedanken nachging, als er die Songs für die CDs schrieb. 2002 rief Pierre den Avant Schlagzeuger Charles Hayward an, der sich gerade in Europa aufhielt und fragte ihn, ob sie gemeinsam ein Album einspielen wollten. Hayward sagte zu und "Grosso Modo" öffnete ein neues Kapitel seines Musikerlebens. Im Quartett mit Guy Segers (Univers Zero, Carbon 7) und Peter Vandenberghe eingespielt, zeigt die komplette Albumstruktur sich sehr improvisativ, und lärmig wie nie zuvor. "Rude" sollte bereits im September 2004 veröffentlicht werden und verschob sich immer wieder. Doch jetzt im April/Mai 2005 wird die CD von Carbon 7 angeboten. Die 14 Songs machen ganz genau 69 Minuten voll. Es hat den Anschein, als wollte Pierre sich in allem selbst übertreffen. Seine Gitarrensoli sind messerscharf, erinnern entfernt schon mal an Robert Fripp, so wie die Struktur seiner Songs bisweilen zappaeske Verrücktheiten präsentiert. Der Wechsel von Laut und Leise, hart und soft, erschreckend und einlullend ist harscher, kantiger als je zuvor. Die Band arbeitet sehr laut und hart und in manchen Stücken, wie etwa "Titanic again" findet Atonalität einen neuen Ausdruck. Das ist unglaublich gut, und ebenso wild und aggressiv. Dann wieder, wie in "greener" flicht das Quartett einen Jazzrock von grandioser Qualität. Trotz aller Härte und Lautstärke gibt es auch balladeskes zu hören, so in "my flemish period", das Pierre mit seinen typischen Loops ausgestattet hat und in dem anschaulich gezeigt wird, dass der Wechsel von Stille und Lärm sehr balladesk sein kann und gleichfalls von eindrucksvoller, differenzierter Härte. Neben Pierre, der neben seinem fabelhaften Gitarrespiel auch für Sounds steht, sind Nicolas Dechêne (b), Renaud Van Hooland (dr) und wieder Peter Vandenberghe (key) dabei, diese vor allem aggressiven Songs zu intonieren. Luc Van Lieshout spielt in einem Song Trompete, und wie schon beim letzten Album heißt es weiter: all improvisations by the improvisers. Das ganze Werk wurde in nur 2 Tagen aufgenommen, Pierre fügte später Overdubs hinzu und produzierte die Songs in seinem Fiasco-Studio. Das wütende, böse Bild mit dem blasphemischen Motiv auf dem Cover setzt sich entsprechend in Booklet und Backcover fort. "Rude" ist erst unzugänglich. Das wird vor allem Fans von King Crimson und artverwandter kraftvoller Rockmusik freuen. Doch dann lässt das Album nicht mehr los. Die witzigen, genialen Sachen seiner ersten 3 Phasen sind nicht mehr zu hören, Pierre hat sich und seine Vorstellung von eigener Musik verändert. Doch diese neuen Songs sind nicht minder interessant. Unbedingter Tipp für Avantrock Süchtige... und alle anderen auch.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2005