CD Kritik Progressive Newsletter Nr.50 (12/2004)

Le Silo - 8.8
(60:07, Tutinoko Label, 2004)

2004. Das Jahr der Superlative. Nach meinem persönlichen Empfinden ist mit Le Silo soeben eine Band auf den Plan getreten, die mit ihrem Album "8.8" Discus, Ahvak und alle weiteren sehr guten Alben dieses Jahres auf die Plätze verweist. In Japan bereits im April veröffentlicht, sind Band und CD in Europa so gut wie unbekannt. Leider, denn die Auflagen in Japan sind relativ klein und ehe man es sich versieht, ausverkauft. Yoshiharu Izutsu als Sänger und Gitarrist, Michiaki Suganuma als Sänger und Schlagzeuger und Miyako Kanazawa als Pianistin und Sängerin nehmen mit der ersten Sekunde vollends Luft und Sinne. Die Kompositionen sind von erhaben aufragender Architektur, elegant, klassisch, tiefsinnig. Die Einspielung hart und vital, das Arrangement schwankt von ernsthafter Tonalität zu atonaler Zerstörung beliebter Hörvorstellungen. Das kann man Progressive Rock nennen, auch Avantgarde oder Free Rock, Jazzpuristen würden dem Album eine gehörige Portion Free Jazz bescheinigen, Metalheads es Avantgarde Hardcore nennen. Jeder würde das Album für seine Lieblingsschublade beanspruchen, um es wohl bei sich unterzubringen. Die Musik ist grenzenlos und nicht kategorisierbar, "8.8" ist ein wahrhaft klassisches Album, das trotz U-Einspielung E-Charakter hat (und trotzdem Hölle rockt!). Das Trio hatte gewiss einen Heidenspaß dabei, diese Songs einzuspielen. Viel Humor steckt zwischen den Noten und Tönen. Gerade in der atonalen Zerstörung der Songs, wenn die Band mit Verve und Elan konzentriert in alle harmonischen Richtungen Funken sprüht. Und in den wenigen Momenten, in denen fast schon normale Rockstrukturen zu erkennen sind. Die Band geht sehr sportlich vor, beobachtet und nutzt jeden Zentimeter des Spielfeldes und spielt sich die Bälle zu. Tief durchdachte Komposition und streng organisierte Improvisation hauen mit listiger Wucht und genau gezielten Schlägen zu. Das Trio spielt nie mit sanfter oder nachlässiger Note, jede Sekunde ist hart und brachial, punktgenau und aggressiv inszeniert. Miyako hat einen klassisch geschulten Ansatz, eine grandiose, klare und exakte Spieltechnik, mit der sie scharfkantige Splitter erzeugt, Töne, die einen wohlig-gruseligen Schauer über den Rücken jagen. Sie bringt den Einfluss aus der Klassik ein (wenn sie auch vom Punk kommt!), den die beiden Jazz-Avant-Prog-Rocker hart anzugehen wissen. Als würde Carla Bley Richard Wagner vergewaltigt und ein 1972er Robert Fripp den nachkriegskreativen Olivier Messiaen überwältigt haben (jede physische Unmöglichkeit außer Betracht gelassen) und dabei diese zuerst vielleicht noch ungewöhnlichen, erschreckenden Songs geschmiedet haben. Die 12 Resultate sind sehr elegant geworden, eine brodelnde Musik voll Ungestüm und plastischer Gestaltung! Miyako kommt aus dem Punk, kompromisslose Respektlosigkeit und rasante Radikalität von Prog und Punk haben gewisse Parallelen (wenn man Prog nicht als Symphonic Rock allein versteht - was eindimensional und stinklangweilig wäre). Als Produzenten hat die Band Tatsuya Yoshida gefunden, der Michiaki sicherlich auch als Schlagzeuger-Vorbild (Technik, Spielweise, Dynamik, Komplexität, Variation, Härte) gedient (und nebenbei in zwei Songs seine beliebten Voices hinzugefügt) hat. Bereits einer dieser polyphonen Songs allein gebietet Achtung und lässt mich innerlich verneigen, aber die gewaltige Ansammlung der 12 grandios-genialen Stücke in diesen 60 wunderbaren Minuten schmilzt mich völlig weg. Auf der Möglichkeitsskala progressiver Musik bekommt dieses Album von 100 möglichen, erreichbaren Punkten 98. (Ein wenig Platz nach oben muss wohl immer bleiben, oder?!) Ich kann jedem Prog Freak nur UNBEDINGT ans Herz legen, sich diese Platte sofort zuzulegen, ehe es sie nicht und nie wieder gibt. Im Discman auf der Straße geht man erhobenen Hauptes und dennoch völlig versunken, entrückt. Es gibt so etwas wie den Himmel auf Erden. Wie sagte Frank Zappa einst: music is the best. Wie wahr! Pflichtteil!

Volkmar Mantei



© Progressive Newsletter 2004