CD Kritik Progressive Newsletter Nr.50 (12/2004)

Viuda Negra - El final del silencio
(63:19, CCE, 2003)

Nachdem in den letzten Ausgaben des PNL die Jagd auf die letzten weißen Flecken der Prog-Weltkarte immer heftiger wird, möchte ich - bevor es noch jemand anderes tut - Ecuador für mich "okkupieren". Von da, genauer gesagt aus der Hauptstadt Quito, kommen nämlich "Viuda Negra" ("Schwarze Witwe"), die bereits seit 1996 gemeinsam Musik machen und deren Debütalbum folgerichtig "El final del silencio" ("Das Ende der Stille") betitelt wurde. Um es kurz zu machen: Dream Theater grüßen an allen Ecken und Enden! Was Instrumentierung, Sound, Melodienführung, Arrangements bis hin zu der obligaten, pianoumrahmten Ballade angeht. Die Verehrung der nordamerikanischen Kollegen geht sogar so weit, dass Viuda Negra einen Song "El teatro de los suenos" ("Traumtheater"!) genannt haben. Aber, was sollīs, Dream Theater ist nun einmal eine geniale Band und besser gut kopiert als innovativ gestümpert, oder? Technisch haben Viuda Negra jedenfalls alles drauf und Tempo-Kracher wie "Pacto de sangre" ("Blutvertrag"), schöne Balladen wie "La historia detras de la cancion" ("Die Geschichte hinter dem Lied") oder kreative Songwriting-Perlen wie "Cronicas" brauchen sich vor dem großen Vorbild keineswegs zu verstecken. Nur der Gesang weicht von "Dream Theater-Schema" ab - Santiago Silva ist alles andere als ein Metal-Shouter. Gesang und Gesangslinien erinnern folglich meist eher an die spanischen Rocker von Heroes del Silencio. Eine große Chance, sich ein eigenständigeres Profil zu verschaffen, verpassen Viuda Negra meiner Meinung nach, indem sie musikalisch leider nicht mehr auf das kulturelle Erbe ihrer von vielen unterschiedlichen Ethnien geprägten Heimat zurückgreifen. Lediglich im Intro von "Plumas de angeles" ("Engelsfedern", der Text geht auf einen indianischen Mythos zurück) tauchen gesampelte Gesänge eines indianischen Amazonas-Stammes auf. Statt dessen widmen Viuda Negra etwa dem deutschen Romantik-Dichter Novalis (!) ein Instrumental und drucken ein Gedicht von ihm im Hüllentext ab. Dabei gibt es in Quito gar kein Goethe-Institut...;-) Die Texte sind insgesamt gelungen und kreisen einerseits um Themen wie Seele, Träume und Phantastisches. Andererseits wird in Stücken wie "Pretendo" ("Ich fordere") und "Melodias para sordos" ("Melodien für Taube") auch die aktuelle Situation des korrupten und bettelarmen Andenstaates kritisch beleuchtet. Also, mir macht die CD jedenfalls großen Spaß und wer Dream Theater mal auf Spanisch hören möchte, liegt mit Viuda Negra sicherlich goldrichtig!

Gerald Matuschek



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