CD Kritik Progressive Newsletter Nr.49 (08/2004)
Warren Dale - The burden of duplicity
(66:19, nxuMusic, 2004)
Warren Dale ist Keyboarder und Saxophonist der amerikanischen Avantgarde Progressive Rocker French TV. "The burden of duplicity" klingt wie ein Schrei nach Selbstverwirklichung. Wie ein "endlich" in Form gebrachtes Paket, das lange herumtragen wurde. Die meisten, wenn nicht alle Musik-Veröffentlichungen weisen eine große Diskrepanz zwischen dem auf, als was und wie klingend sie gedacht waren und dem, was letztlich komponiert, arrangiert, eingespielt und produziert wurde. Hier scheint die Vorstellung von der Realisierung nicht so weit auseinander zu liegen. Das äußert sich in der eigenwilligen, ungewöhnlichen Instrumentierung und überhaupt ganzen Musiksprache. Wenn French TV Avant Prog Rock sind, so ist Warren Dale quasi in der ernsten (oder neo-klassischen, oder E-) Musik, genauer gesagt im Avant Chamber Rock zu Hause. Die 7 Stücke sind klarer Ausdruck eines ernsten, phantasiereichen Komponisten, der es zu Wege gebracht hat, diese Vorstellung, diese Vision von Musik auf Papier zu bringen und sie mit weiteren Musikern umzusetzen. Ein ganz großer Dank dafür! Leider wird diese geradezu geniale Musik wenige Hörer finden. In der Rockmusik, selbst im Progressive Rock müssen sich die potentiellen Hörer weit aus ihrem eingefahrenen Vorstellungsbereich hinauslehnen, Klassik-Freaks (welch Gegensatz im Ausdruck!) werden ob der Rock- oder wie sie vielleicht denken werden, Jazz-Nähe die Nase rümpfen: allen sei versichert: diese Produktion ist reich an Erfahrungswerten, an ungewöhnlicher, erstaunlicher Musik, an Phantasie, Humor, Stille und Lärm. Im ersten Song: "Siaynoq, Dance of the Heretics", spielt Warren Dale Klarinette, Synthesizer und Percussions. Das harmonische Stück wirkt friedlich durch sein helles Folklore-Muster, deutet aber mit schwerem Rhythmus und leisen Disharmonien eine gewisse Nähe zu Univers Zero an, die neben dem leichten Motiv eine unterschwellige Bedrohlichkeit transportiert. Frank Zappa hätte seine große Freude an diesem Stück (wie ebenso an den folgenden). In "Here today" spielt Pam Ravenelle Flöte, während Dale "bird vocalizations" zaubert. Stille, konzentrierte Essenz, lyrische Dimension - solche Begriffe bekommen hier eine magische Aussage. Komisch, witzig, frech, so das Gezwitscher. Die abstrakte Melodik des Flötenspiels als Antwort darauf (und gar Bohrmaschinengeräusche samt allerlei weiterem Lärm-Hintergrund) fließen zu ambienter und in gleichem Maße kraftvoller Atmosphäre zusammen. Die knapp 7 Minuten sind reiche Illustrationen eigenartiger Musik, die nur und völlig verzücken. Das dritte Stück "The ugly forge by which men are tempered" ist eine Sammlung rhythmischer Kraftfelder. Das New Music Ensemble (im letzten Track wieder dabei), aus 9 Musikern bestehend, bedient eine "Battery of Metal Objects", Warren Dale spielt Vibes und Metallophones. Wie ein Ameisenhaufen; geordnet, strukturiert, im Ganzen wie im Einzelnen, wirbeln die rhythmischen Töne eine Einheit; eine lustvolle, lebendige, hinreißende Spannung zusammen. Zum Schluss steigert sich die Note zunehmend und erhebt sich zu wahrer Größe, um in sich einzustürzen und ein tiefes Loch zu hinterlassen, in das "Tears of a Velvet Clown" perfekt steigt. Das komische Motiv könnte glatt aus einem Leierkasten stammen oder von einer betrunkenen Zirkuskapelle gespielt sein. Nur das die feinen, kleinen Töne viel zu treffend und durchdacht sind, als dass sie aus einer besoffenen Laune entstehen könnten. Hier entfaltet sich im 8-köpfigen Spiel der Chamber Rock zu festerer Struktur. Das Ensemble findet einen virtuosen Klang, der sonst nur von Thinking Plague in solch Dynamik und Ausdruckskraft getroffen wird. Ein ausgezeichnetes Stück, das jeden Progressive Rocker entzücken wird und in 13 Minuten am meisten von allen Stücken in Rocknähe gerät. Gleich darauf in "Broken home" arbeitet sich Warren Dale mit Bassklarinette und Haushaltsgegenständen durch ein uriges und urkomisches Stück Musik, das einfach nur herrlich zu nennen ist (auch wenn das Wort "herrlich" abgenutzt, zudem eher seltsam ist). Augen zu, Ohren auf - und schon sind diese Laute ein Film, entspannend in seiner schieren Perfektion. Welche Lust, diesen Tönen zu lauschen (nur gedämpft durch das vergnügte bis missmutige Wissen, dass ein großer Teil der potentiellen Hörer diese Musik nie hören werden, aus Angst davor, zu sehr erschreckt/hingerissen zu werden...). "Holoventures of M1-L0" ist das längst Stück der CD. In über 16 Minuten entfaltet sich ambientes Synthesizer-Spiel, phantasiereich, lyrisch, sehr schön und mit einfallsreichen Ecken und Kanten, aber auch mit einer zu großen Harmonisierung, so dass einige Teile des improvisativ wirkenden Songs nicht die hohe Qualität der CD halten können. Trotzdem in seiner vielfältigen Note zumeist gelungen. Zum Schluss gibt es die Frank-Zappa-Krönung. "Whatïs in a name", wieder mit dem New Music Ensemble eingespielt, ist ein abstraktes, weit auseinander driftendes, verrinnendes und wieder aufsprudelndes Sammelsurium an reinem instrumentalem Humor, komisch, urkomisch. Hervorragend in seinen melodischen Fetzen und lose ineinander greifenden (A-)Tonalitäten. Elf Minuten lang schweift dieses Ding von Song aus, mit einem intensiven Gefühl für Harmonie und Tonfolge. Mir unbegreiflich, wie man solche Musik schaffen, denken kann. In der Mitte des "Liedes" bekomme ich Angst, dass die Musiker ihre Instrumente vergewaltigen, abschlachten, zerstören, so berauscht sich immer lauter werdend der vielfältige Tonaufbau aus Klopfen, Schlagen, Ziehen, Zerren, Blasen und Kratzen. Aber dann schwillt plötzlich die Hektik wieder ab (während die Musiker gewiss über den angstvollen Hörer grinsen) und das atonale Gefüge fließt wie Lava dahin, alles überformend und jeden steinernen Höcker umspielend. Ein Song, der wohl nur aus Fehlern besteht, oder dem, was bei anderen Bands weggekehrt würde. Hier findet es zu einzigartiger Größe und fabelhafter virtuoser Spannung. Diese CD mit allen ihren Tönen, Harmonien und Disharmonien ist absolutes Pflichtprogramm, eine Schule für Ohren und Sinne. "The burden of duplicity" steckt den Rahmen ab, in dem wirkliche und abstrakte Musik Platz finden kann, die nur irgendwie echt und eigenartig ist. Es gibt Popmusik auf dieser Welt? Und wieso hört das auch nur ein Idiot? Und mit einem Pianoton, patzig und schlicht, geht die CD zu Ende. Meisterwerk! (2004 ist ein wirklich an Favoriten reiches Jahr!)
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2004