CD Kritik Progressive Newsletter Nr.48 (04/2004)
Discus - ... tot licht!
(62:48, Musea, 2004)
Wenn es eine Lehre gibt, die man mit zunehmender Verbreitung lokaler progressiver Rockmusik durch das Internet ziehen kann, dann ist es sicherlich diejenige, dass es keine wahrhaft weißen Flecken auf der musikalischen Landkarte gibt. Prog kommt heute nicht nur aus den USA, aus Schweden oder aus Deutschland, sondern ebenso gut aus Armenien, aus der Türkei oder aus Indonesien, wie das im Falle der vorliegenden Band Discus ist. So wenig einladend das Cover in seiner Zeugen-Jehovas-Aquarell-Ästhetik ist, so spektakulär ist das Album in seinem musikalischem Contenu (oh ja, in diesem Fall brauchen wir das Angeber-Fremdwort und schreiben es obendies auch noch mit großem C): Discus entfachen von der allerersten Sekunde (bis zur allerletzten) ein in dieser Form ungehörtes, unerhörtes Feuerwerk an Stilrichtungen, Genres, Anspielungen, Déjà-vus und Zitaten. Respektlos, frech, ungestüm und doch musikalisch in höchstem Maße professionell, verquicken Discus all das, was doch dereinst per definitionem nicht zu verquicken war, was tabu war. So herrschen meist jazz (-rockige) Elemente vor (Ausnahme "P.E.S.A.N." und "Music for 5 players"), diese werden aber von knüppelharten Metalriffs geradezu zersägt; sie paaren den typischen, progressiven Größenwahnsinn mit introvertierter Instrumentalmusik; sie durchsetzen Prog mit LatinJazz, mit Scat-Gesang, mit Freejazz, mit Zappaeskem, mit düster-bedrohlichem, kurzum mit allem, was ihnen vor die Füße fällt. Das Unerwartete ist in ihrer Musik Programm. Das wahrhaft erstaunlichste an diese Scheibe ist allerdings, dass man keine Nahtstellen hört. Die einzelnen Passagen wurden ineinander verwoben, gehören stringend zusammen und sind nicht das übliche Patchwork, das im nachhinein zur Suite deklariert wird. Wie ein Rahmen um all dies spannen sie dann noch genre-fremde Einflüsse (allen voran asiatische Einflüsse, namentlich buddhistische Chormusik, indonesische Gamelan-Musik, dazu pentatonische Musik Debussy'scher Prägung), vermengen ihrer furiose Fusion mit genre-verwandte Einfüssen (einfach köstlich das Metal-Grunzen auf "Breathe", das geschickt im Dialog mit den jazzigen Frauen-Vocals steht) und einer gehörigen Portion Respektlosigkeit. Wenn eine Formation dem widersinnigen Terminus "Anarcho-Prog" irgendwie ernsthaft nahe gekommen ist, dann ist es Discus, und dies obwohl ihr Musik alles andere als ungeplant, chaotisch und willkürlich ist. Bewegung, stetige, meistens rasend schnelle Veränderung ist das Hauptmerkmal der Musik auf "...tot licht!", fast ein Blick aus einem schnell fahrenden Zug mit einer sich rasend schnell verändernden Landschaft, die doch von Anfang bis Ende eine Strecke, einen Weg darstellt. Die naseweise Deutsch-Leistungskurs-Metapher "Durch die Dunkelheit ins Licht!" spar ich mir einmal an dieser Stelle. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Discus prägnantestes Stilmittel ist der permanente Regelverstoß, das Auflösen alter Klischees, eine sehr freie Lesart progressiver Rockmusik, die sich vergnügt bei all dem bedient, was für die Entwicklung der Kompostion (und des Albums) notwendig ist. Es steckt viel Arbeit und musikalisches Können in solch einem Album; wie erfreulich, dass es auch noch so wahnsinnig viel Spaß macht: Definitiv ein euphorisch stimmendes Album.
Sal Pichireddu
© Progressive Newsletter 2004